Ludwig Alemann (Zwischenbemerkungen)

Zwischenbemerkungen:
Wahrheit, Vernunft  und Glaube:
Weltanschauung und Reformation
—> zu Ludwig Alemann (1468-1543)

1.: Über die „Revolutionen“ von Himmel und Erde
2.: Über die alte und die neue Wahrheit
3.: Luther und die Vernunft
4.: Über das alte und das neue Weltbild
– 4.1.: Wahrheitssuche auf der Epochenschwelle
5.: Weg vom Absoluten, hin zum Konkreten
6.: Das Gottesbild und die ewig unbeantwortbaren Fragen
– 6.1.: Luther und Kant: der Mut, zu denken, und der Mut, zu glauben
7.: Luthers Gott und der Kampf gegen die Teufel
Quellenangaben (Verweis auf Hauptartikel)

 

1. Zwischenbemerkung: Über die „Revolutionen“ von Himmel und Erde

Weder der Autor noch die Zeitgenossen dachten bei dem Wort „revolutio“ an eine Revolution, so wie wir sie heute ver­stehen. Es ging nicht darum, das Alte zu zerschlagen, um die Freiraum zu schaffen für das Entstehen des ganz Neuen. Die Zeitgenossen von Kopernikus dachten an Kreisläufe, an die innere Dynamik stabiler „Zustände“, an sich ewig wiederholende Bewegungen, an eine vorbestimmte Welt, die ganz in Gottes Hand liegt, in der die Erde der Kern des Universums zu sein hat. Man dachte noch aristotelisch. Man glaubte an eine unwandelbare, ewig „lebendige“ Substanz. Gott war gewissermaßen als Formbestimmer die unabdingbare Form, die der Materie, also dem Inhalt, Existenz und Leben gab, und das Leben war ein gottgegebener, vorgeformter Raum, in dem sich „Stoffe“ und „Geister“ in Gestalt zufälliger Existenzen mischten.

Materie war seit den Vorsokratikern das Wechselspiel von Erde, Feuer, Wasser und Luft. Drum herum gab es die Quintessenz – den fünften Grundstoff, den Sinngeber, de facto also den Himmel, an dessen kristallenen Gewölben in sieben Schichten die Sterne befestigt waren. Himmel und Erde waren unvereinbar getrennt und in der irdischen Sphäre war das Stoffliche das Primäre. In den himmlischen Sphären musste folglich der primäre „Stoff“ das „Geistlich-Geistige“ sein. Die Sterne waren mehr als „Materie“, sie bestimmten den Lauf des Lebens. Der Glaube an Horoskope hat bekanntlich bis heute überlebt! Daraus ergibt sich eine einfache Vorstellung: Im Stoff herrschte „Ruhe“ und Stabilität, im „Geist“ demgegenüber Dynamik und „Willkür“. Die Materie gehorchte den Gesetzen und nur der Geist kannte überhaupt so etwas wie Freiheit als Kraft, die fähig ist zu Gehorsam und Gebot, zu Selbstentäußerung und Selbstgesetzgebung. Die Natur der Körperwelt besteht folglich darin, ein System von Gegenständen zu sein, das der Geist so formt, dass es ihm dient. Der Geist ist der Zwecksetzer und die Natur der Zweckerfüller.

Als Baustoff des Alls, umgeben von geisterähnlichen Sternen, war die Materie  mit der Erde und dem physisch Greifbaren nahezu identisch. In der Astronomie, die damals immer auch Astrologie war, beobachteten die Forscher um die Erde und die Materie herum „engelsgleiche“ Himmelskörper.

Doch wie in den Engeln, den „Zwischenwesen“ in den getrennten Welten von Gottes Geist und göttlicher Schöpfung, entdeckten die Sternengucker in den Sternenbewegungen unvermeidlich materielle Eigenschaften. Umgekehrt vermutete man in allen Stoffen und Körpern geistig-göttliche Kräfte als innere Wirkkraft, als „Lebensgeist“ der stofflichen Dinge. Und diesem „erweiterten“ Materiebegriff entspricht dann auch die Idee von „Naturgesetzen“, denen alles Stoffliche gehorcht:

Das Ptolemäische Weltbild ist ein geozentrisches Weltbild, das von der aristotelischen Annahme ausgeht, dass Himmelskörper sich nur mit konstanter Geschwindigkeiten auf Kreisbahnen bewegen können. Es wurde von Claudius Ptolemäus (ca. 100–160 n. Chr.) ausgearbeitet. Sein Werk Mathematices syntaxeos biblia XIII schrieb dieses geozentrische Weltbild im europäischen Raum für fast 1500 Jahre fest. (wikipedia: Geozentrisches Weltbild)

Die Bewegungsenergie als Lebenskraft der toten Materie wurde den Körpern vom „ersten unbewegten Beweger“ eingepflanzt. Die Materie hatte keine echte Eigenenergie. Hieraus ergab sich auch das Bild vom Universum der damaligen Zeit. Erste Aufweichungen von diesen festen Überzeugungen gab es schon in der Spätscholastik. Nikolaus von Oresme erklärte, dass die aristotelischen Wahrheiten angreifbar seien und hinterfragt werden müssten. Es sei möglich, dass die Erde um die Sonne kreise und Bewegungen sich auch durch Druck und Widerstand selbst erzeugen. Nikolaus von Kues verbreitete die Idee einer alles durchdringenden Unendlichkeit. Beide gemeinsam gaben der Mathematik ansatzweise jene Bedeutung, die sie dann in der neuzeitlichen Wissenschaft zum Ankerpunkt des wissenscafthlichen Denkens machten. In der Vorzeit der Neuzeit entfalteten all diese Denker ihre Ideen aber im Kontext der geltenden Dogmen.

An das Gesetz konstanter Geschwindigkeiten auf klar fixierten Kreisbahnen glaubte auch Kopernikus. Doch Sternbeobachtungen zeigten Phänomene, die nicht zu den einfachen Kreisbahnen passten.. Die Himmelskörper schienen sich nicht an die reine Lehre zu halten und man musste sich mit zusätzlichen Epizykeln behelfen. Kopernikus gab sich damit nicht zufrieden, denn er glaubte, dass die Natur nichts Überflüssiges und Unnützes tut. Daher wollte er beweisen, dass die Bahnen der Sterne den einfachen Regeln der aristotelischen Physik gehorchen, dass in der Geometrie des Weltalls „geradlinige Bewegungen widernatürlich“ und „kreisförmige natürlich“, dass Sternenbahnen reine Kreise seien, die von keinen gradlinigen Impulsen gestört würden.

„So gesehen kann die Bewegungslehre des Kopernikus nicht als modern bezeichnet werden“ (Fischers Weltgeschichte Band 12, S. 183).

2. Zwischenbemerkung: Über die alte und die neue Wahrheit

Neu war der Anspruch, Wahrheiten in Gesetzen (nicht in Geboten) festzuhalten, in Lehrsätzen, die ganz ohne „Hypothesen“ und ohne jeden übergeordneten Willen auskommen. So sprach Johannes Kepler von seinem Bestreben, eine Astronomie ohne Hypothesen zu formulieren. Das gelang ihm dann auch tatsächlich durch die Einbindung der physikalischen Wechselbeziehungen zwischen den Körpern im All.

Diese Annahme hatte einen Preis:

die Kreise der Theorie wurden in der Praxis zu Ellipsen, die fixen Geschwindigkeiten der Himmelskörper wurden variabel. Und doch war genau dies ein sehr, sehr wichtiger Schritt auf dem Weg zur Gravitationstheorie von Isaac Newton.

Neu war also nur dies:

Man ließ Gott und die Idee eines übergeordneten Willens beiseite und beschränkte sich auf die gegenständlich fassbaren, rein weltlichen Dinge.

Damit waren auch die Worte, die ja stofflich nur ein „flatus voci“, ein Lufthauch (oder eben bloße Zeichen) sind , nicht mehr Träger und Übermittler von wirklicher „Wahrheit“, man unterschied scharf zwischen den Dingen und den Namen (res/real, nomen/nominal).

Folglich bezog man sich bei der Formulierung der Naturgesetze direkt und ausschließlich auf die experimentell und existenziell erprobten Erkenntnisse und auf die Phänomene, kurz: auf die eigenen Sinne.

Man versuchte, eigene Beobachtungen so in Sätzen zu fassen, dass die Gesetze zu „Tatsachen“ werden. Derartige Sätze sagen jedem, der an sie glaubt, aus eigener „Vollmacht“: „So ist es!“ – doch der Denkende antwortet: „Du bist nur ein Satz, ein Haufen von Worten, eine leere Benennung!“

Conclusio: Die Wahrheit des Satzes „So ist es!“ beruht auf reinem Glauben, d.h. sie ist allein im Tatbestand  der rationalen und experimentellen Verarbeitung von reiner Erfahrung verborgen; sie kommt zum Vorschein dadurch, dass sie in einer möglichst eindeutigen Sprache ausgedrückt und kommuniziert wird, idealerweise in einer formalen Notation, insbesondere der der Mathematik.

Naturgesetze repräsentieren das Vertrauen in eine „Tatsache“, die aus sich heraus an und für sich gilt. Im Gegenstandsbereich einer vorgegebenen „Phänomenalität“ gilt diese „Tatsache“ als eine sprachlich-logische Konvention mit dem Namen „Wahrheit“, also letztlich als Behauptung.

Die „Tatsache“ beruht auf dem Axiom, dass die Natur durch ein System von Gesetzen ausreichend oder gar vollständig beschrieben werden kann, dass man keine Bibel braucht, jedenfalls keine „Pfaffen“, die vermittels der Bibel die eigene Erfahrung leugnen, um ungehindert alles Wissen dem „wahren“ Glauben unterordnen zu können.

Dennoch sollte das „Wesen“, das sich die Wissenschaft im Erfahrungswissen mit Hilfe von Experiment, Logik und Berechnung erschließt, unabhängig sein vom Zufall, vom „bloß Existierenden“, von der Gegenwart der Dingwelt. Man bezog sich mit seinen Aussagen zwar primär auf das Gegenständlich-Räumliche und betrachte erst danach das, was das Zeitlich-Dynamische, also das, was Veränderungen und Entwicklungen von sich aus bewirkt.

Die Gesetzesaussagen über das Wesen und das Wesentliche sollten absolut und ewig gelten. Dies ist die theologische Prämisse neuzeitlichen Denkens. Die neue „Religion“ war eine „Teleologie“. So schließt sich die Neuzeit – trotz des Bruchs mit Mittelalter und Aberglauben – nahtlos an an jene Scholastiker, die den Menschengeist in seiner Eigenenergie ernst nahmen, die daher Gott und dessen Werk (die „Welt“) selbstbewusst als Menschen in den Blick nahmen, als Blickende, nicht nur als Erblickte.

Diese frühen Lehrer des rationalen Argumentierens bereiteten in der Endlichkeit die Denkregeln vor für die Unendlichkeit, für ein selbständiges abstraktes Denken und für eine neugierige, empirisch-experimentelle Wissenschaft, aber auch für einen vernünftigen Glauben in Bezug auf das, was von der Sache her nur Gegenstand von „Metaphysiken“ sein kann.

Im Prinzip entspricht die natürliche Theologie wohl am besten diesem Anspruch. Doch das, was man durch rationale Analyse in Sachen „Gott“ fixierbar ist, ist gerade nicht das, was der Glaubende als Gewissheit und als „Sicherheit“ sucht. Das, was die rationale Analyse freilegen kann, sind lediglich allgemeinste Prinzipien einer politischen Moral und Postulate von „Gesetzen“ einer „höchsten“ Sittlichkeit.

Wenn man will, kann man sagen, dass die europäischen Intellektuellen seit der Scholastik begannen, den Willen Gottes „in den Dingen“ suchen. An die Stelle des Gottesbildes des Mittel­alters traten Gesetze, deren Kenntnis die Wissenschaft erwerben und verkörpern will: die Naturgesetze und das Naturrecht.

Vor die Vision eines allmächtigen Gottes, der jederzeit tut, was er will, tritt das Bild einer absoluten Vernunft, in der sich Gottes „himmlische“ Gebote der weltlichen Vernünftelei nur dann „offenbaren“, wenn man sich diesem neuen „Geist“ mit Haut und Haar unterwirft. Hier gibt es dann nur noch zwei Möglichkeiten: entweder man glaubt, zu wissen, oder man weiß, zu glauben. Beides kann auf vernünftige und auf unvernünftige Weise geschehen.

Im Streit zwischen Wissen und Glauben ging es seit der Scholastik ja ganz allein darum, wie sich der vernünftige Mensch zum göttlichen Wesen, also zur „Vernunft“ des Absoluten verhalten soll, wobei durch den „aufgeklärten Scholastiker“ unterstellt wird, dass dieser „absolute Geist“ nicht nur reine Willkür, reiner Wille ist, dass er vielmehr reine Regelmäßigkeit und Gesetzmäßigkeit sei, dass Gottes Wille mit der Kraft der Logik in seiner Notwendigkeit und in der Wechselwirkung von Ursache und Wirkung erkannt oder doch nachempfunden werden kann.

So trennte auch Luther die menschliche Vernunft ganz radikal von einem Gott, der als allumfassendes und alles erschaffendes Wesen die Vernunft selbst ist.

3. Zwischenbemerkung: Luther und die Vernunft

Man findet im Internet zum Lutherjahr 2017 auch Polemiken gegen den Reformator, der ja auch in seiner Lebenszeit allen immer breite Angriffsflächen bot. So resümiert Hartmann Schimpf in einem Heft der Schriftenreihe von Religionsfrei im Revier (RIR) Bochumdie Abgründe des Reformators“ so:

„Der Name des fundamentalistischen Reformators ist also verbunden mit unbarmherziger Intoleranz, mit Frauenverachtung, mit alttestamentarischer Grausamkeit, mit Despotismus, Tyrannei, paranoidem Machtdrang und Anstiftung zum Völkermord. Die demokratisch orientierte Moderne kann daher in Martin Luther kein Vorbild sehen.“

Das Heft enthält ein Kompendium all der Zitate aus den Luthertexten, die zur Unterstützung dieser Thesen angeführt werden können. Hierzu gehören auch die Philosophie und die „natürliche Vernunft“, zu der es eine Kommentierung im humanistischen Pressedienst gibt, die differenzierter, aber ebenso entschieden negativ ist:

„Es gibt wohl kaum einen Religions-, Konfessions- oder Sektengründer, der einen wilderen Irrationalismus als Luther lehrte, der die natürliche Vernunft des Menschen derart hasste, reduzierte und entwertete. Bedenkt man, dass diese natürliche Vernunft auch eine notwendige Grundlage und unabdingbare Voraussetzung demokratischer Staaten und Gesellschaften ist, dann sieht man hier wieder die eminente Gefahr, die von Luthers Bild des Menschen und seiner Erkenntniskräfte ausgeht. Streichen wir die Vernunft des Menschen, sein Vermögen, den Wirklichkeitsgehalt der Dinge wenigstens annähernd richtig zu erkennen, Gut und Böse zu unterscheiden, vernünftige Gesetze zu schaffen und als in ihrer Legitimität eingesehene zu befolgen, dann versinken wir im Chaos der Anarchie oder landen in den Fangarmen menschenfeindlicher Diktaturen.“
(Hubertus Mynarek, Martin Luthers Großangriff auf Philosophie und Vernunft, 15.11.2016, in Humanistischer Pressedienst)

Der Artikel verweist abschließend auf Richard David Precht, der in einem Interview die folgende Kurzcharakteristik von Luthers Gesinnung gab:

Sie schreiben gerade den zweiten Band Ihrer Philosophiegeschichte. Wo befinden Sie sich?

Bei Luther. Ein widerlicher Geselle, ein Verbrecher an der Menschheit. Den haben wir noch nicht richtig aufgearbeitet. Wir gehen mit Luther um, als sei er ein „Heiliger“ der evangelischen Kirche. Er war aber ein für die damalige Zeit untypisch aggressiver Antisemit, Frauen verachtend bis ins Mark und vom Denken her völlig mittelalterlich. Teufel war sein Lieblingswort. Die Gesellschaft war sehr viel weiter.

Wir werden im Lutherjahr 2017 aber große Hymnen auf Luther lesen.

Mag sein, aber ich hoffe auf eine Gegenhymne.
(R. D. Precht, Interview in der Münchner Abendzeitung v. 28.5.2015)

Gegen diese durch und durch atheistische Rezeption steht die zartfühlendere theologische Diskussion, von der mir beim Googlen ein Artikel des katholischen Fundamentaltheologen Peter Knauer auffiel, der seine theologische Laufbahn mit einer intensiven Auseinandersetzung mit Gerhard Ebeling begann, einem protestantischen Theologen und dem seinerzeit besten Lutherkenner, dessen sechsbändige Auswahl von Lutherschriften ich von meinem Vater geerbt habe und hier an verschiedenen Stellen zitiere. Knauer beginnt seine Darstellung zum Thema „Vernunft – Naturwissenschaften – christlicher Glaube“ so:

„Martin Luther sagt einmal, die Vernunft sei Gottes größte Gabe für den Menschen, sie sei etwas Allerhöchstes und die „Wirklichkeit der Wirklichkeiten“ (WA 39,1;176). Aber zugleich nennt er die Vernunft auch „eine Hure des Teufels“ (WA 18,164). Letzteres gilt für ihn dann, wenn die Vernunft sich über ihre eigenen, ihr innewohnenden Gesetze hinwegsetzt und willkürlich wird. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn sie abergläubischen Vorstellungen verfällt, d.h. Dinge ungeprüft „glaubt“, die eigentlich Sache der Vernunft wären.“
(Peter Knauer SJ, in: Studia Bobolanum 4 (2008), S. 21–41)

Ich will diesen beiden Stellen etwas genauer nachgehen und mit dem abschließen, was Hubertus Mynarek, ein ehemaliger katholischer Priester und Kirchenkritiker, vor allem anderen zum Gegenstand seines Artikels gemacht hat: die Disputation „de homine“. Ich schnitze damit mit meinen Möglichkeiten ein recht grobes Bild, mit dem ich zumindest für mich eine erste Orientierung suche.

Die Hure des Teufels führt uns unmittelbar an den Anfang der Reformation. Vor der Reformation war Andreas Bodenstein, genannt Karlstadt, in Wittenberg Luthers Lehrer und unmittelbar danach eher so etwas wie dessen Konkurrent. 1518 gab es die Bannandrohung gegen Luther. 1521 wurden Luther und alle seine Anhänger dann definitiv mit dem Bann belegt. Der sächsische Kurfürst Friedrich der Weise brachte den Verursacher des Ganzen in Sicherheit und versteckte ihn auf der Wartburg. Doch der Bruch seiner Kirche mit ihm, der durch die Androhung der höchsten Kirchenstrafe vollzogen und mit der Verbrennung der Bulle beantwortet war, hatte den zuvor eher übereifrigen, kirchentreuen Mönch in  den uns bekannten Reformator verwandelt. Seine Schriften aus der Zeit von 1518-1521 waren – bei aller Subtilität in der theologischen Substanz – vor allem Fanfaren der Empörung eines frommen Menschen, der gegen die Unfrömmigkeit der Kirchenhierarchie rebelliert.

Luther hatte Philosophie und Theologie ausreichend studiert und sein Denken war geschult an William von Ockham und dem Kirchenvater Augustin. Augustin prägte seine Frömmigkeit und Ockham gab ihm das „Rasiermesser“ in die Hand, mit dem er den Wildwuchs der Begriffe auf das Wesentliche kürzte. Die sieben Sakramente der katholischen Kirche reduziert er auf zwei wirklich echt sakrale Handlungen, auf „Riten“, die für eine Religionsgemeinschaft unverzichtbar waren, da sie verdeutlichten, was den Gläubigen die „unsichtbare Wirklichkeit Gottes vergegenwärtigt“ und sie „an ihr teilhaben lässt“ (wikipedia, Stichwort „Sakrament“). Das waren Taufe und Abendmahl. Der Reformator wider Willen, der noch ganz in seinen Widersprüchen und in seiner Empörung verfangen war, hatte auch den zölibatären Priesterstand und die päpstlich abgesegnete Priesterweihe infrage gestellt. Die Gemeinde sollte selbst ihre Seelsorger bestimmen und Konzile sollten von unten her über Kirchenfragen entscheiden.

Diese eher negativen oder doch noch sehr allgemeinen Vorgaben („So nicht!“) verlangten in der Zeit seiner Abwesenheit ganz unmittelbar nach einer positiven Auslegung („So ist es!!“). Insbesondere das Abendmahl, über das die Lutheraner später unversöhnlich mit Ulrich Zwingli stritten, wurde zum Konfliktpunkt. Generell entstand spontan mit der sich ausbreitenden reformatorischen Bewegung ein Bedarf, die äußeren Formen des Gottesdienstes und des Gemeindlebens konkret festzulegen. Hierbei übernahm Karlstadt eine bestimmende Rolle. Er ging hier forscher voran, als Luther es getan hätte. Karlstadt wollte, wenn man schon mit der Tradition bricht, weniger „schriftgelehrt“ vorgehen als Luther. Dies betraf insbesondere die beiden unverzichtbaren Sakramente, ohne die eine „gesunde“ Gemeinde für Luther nicht denkbar war. Die Lage wurde dadurch verschärft, das charismatische „Schwärmer“ wie Nikolaus Storch und seine Anhänger, die „Zwickauer Propheten“, wie Luther sie polemisch nannte, in Wittenberg an Einfluss gewannen, wogegen weder Melanchthon noch Karlstadt die passenden Mittel fanden.

Karlstadt brach zwar nicht mit der Kindstaufe, wie es Storch und später die Wiedertäufer taten. Aber er unterstützte energisch das Verbot von Bildern in der Kirche, forderte die Entfernung der Orgel und verteilte das Abendmahl ohne Priestergewand so an die Gemeinde, dass die Gläubigen Brot und Wein selbst zum Munde führten. Er konnte auf diese Weise den „Zwickauer Propheten“, die behaupteten, der Geist Gottes spräche aus ihnen, nicht wirksam entgegentreten. Luthers Schriften wurden in diesem Klima immer weniger mit Vernunft benutzt und immer mehr zur Waffe , weil es letztlich nur noch darum ging, radikale Brüche als gottgefällige Maßnahmen zu legitimieren. Dagegen richtete Luther seine Kampfschrift „Wider die Himmlischen Propheten (WA 18, (1522))“.

Luther kannte und las die Bibel mit einem tieferen Ernst als viele, die – von reformatorischem Elan (und ihren Interessen) geleitet – ohne seine Vorbildung, seine Bibelkenntnis und seine Frömmigkeit den Kampf gegen die päpstlichen Autoritäten aufnahmen. Er nahm es sehr ernst, dass Christus sagte „Das ist mein Leib“, als er das Brot brach und es den Jüngern gab, dass er sagte: „Das ist mein Blut“, als er den Kelch nahm und den Jüngern den Wein zum Trinken anbot. Für ihn verkörperte der Priester die Anwesenheit Christi, Brot und Wein waren im Abendmahl für ihn mehr als Symbole. Die heilige Schrift analysierte auch Luther als Schrift von Menschen; das Evangelium war als Ensemble der vier Evangelien und der weiteren Schriften des Neuen und des Alten Testaments zwar menschengemacht, also „körperlich-materiell-teuflisch“, das heißt: trügerisch. Die Heilige Schrift war aber dennoch mit all ihren Einzelschriften eine Einheit als Medium, das die Botschaft Christi und das Wort Gottes den Menschen verkündet als Frohe Botschaft, als Evangelium.

Der, der die Bibel so las, dass er nur die Worte wahrnahm, ohne den Geist, der aus ihnen sprach, wahrzunehmen oder zumindest zu suchen, war für Luther ein Opfer des Teufels oder bestenfalls das, was manche heute einen mittelalterlichen Scholastiker nennen, jemand, der vor lauter „Vernunft“ das allerwichtigste übersah. Es wäre falsch, mit Einzelproblemen und Einzelfragen an die Bibel heranzugehen, um dort Begründungen zu suchen für dies oder jenes. Es wäre auch falsch, in den Vordergrund zu stellen, dass die einzelnen Evangelien von verschiedenen Aposteln, also von verschiedenen Menschen erstellt wurden, um dann die Worte des einen gegen die des anderen ins Feld zu führen. Luther vollführte also so etwas wie eine „Vorwärtsverteidigung“, denn die, die er als „himmlische Propheten“ attackierte, machten seiner Fraktion den Vorwurf, in Religionssachen nur Schriftgelehrte zu sein, die die Wahrheit mit klugen Sprüchen ersticken. In diesem Kontext fiel der vielzitierte Spruch:

»Fürderhin lehret er (der Sündenfall) uns, was Frau Hulde, die natürliche Vernunft, zu diesen Sachen sagt, geradezu als wüssten wir nicht, dass die Vernunft des Teufels Hure ist und nichts kann denn lästern und schänden alles, was Gott redet und tut. Aber ehe wir derselben Erzhure und Teufelsbraut antworten, wollen wir zuvor unseren Glauben beweisen.«

Was hier gemeint war, kann man besser einer späteren Schriften Luthers entnehmen, einer Schrift, in der er auf die Kritik des wichtigsten Humanisten seiner Zeit, auf Erasmus von Rotterdam antwortete, um den Anspruch der Theologie auf eine eigene höhere Wahrheit zu verteidigen gegenüber der Philosophie, gegenüber der dem Diesseits verpflichteten, „fleischlichen“ Vernunft. Dies geschah in einer Debatte über den freien Willen, ausgelöst durch eine „Diatribe“ von 1524: De libero arbitrio („Über den freien Willen“ oder „Über die willentliche Wahrfreiheit“).

Eine Diatribe ist eine moralphilosophische „Rede“, die sich in lockerem Ton an ein breites Publikum wendet. Erasmus bezog damit Stellung gegen Luthers These, dass nicht die eigenen Taten, sondern allein die göttliche Gnade nach dem Tod über das Schicksal des Menschen entscheidet. Luther antwortete 1525 mit der Schrift De servo arbitrio („Über den geknechteten Willen“ oder „Vom unfreien Willen“), der auf verschiedenen Seiten im Internet in der hier zitierten Version veröffentlicht ist. Dort beantwortet er die vornehme Polemik auf seine Art mit offen unvornehmer Polemik:

„… ich werde Dir so zusetzen, wenn Christus mir gnädig ist, daß ich hoffe, Dich dahin zu bringen, die Herausgabe Deiner Diatribe zu bereuen.“

Gegen die Verteidigung des freien Willen der menschlichen Vernunft setzte Luther das Postulat der göttlichen Gnade, die den unfreien Willen der Alltagsmenschen (und der ungebundenen Willkür ihrer Vernunft) erst zum freien Willen eines glaubenden Christen und zur unanfechtbaren Wahrheit mache. Luther vertrat seine Position mit einer Vehemenz, die zu einem tiefen Bruch zwischen dem Humanisten und dem Reformator führte.

„Ganz offensichtlich gibst Du also zu verstehen, daß jener Friede und die Ruhe des Reiches weit wichtiger scheint als der Glaube, als das Gewissen, als die Seligkeit, als das Wort Gottes, als die Ehre Christi, als Gott selbst. Deshalb sage ich Dir und bitte Dich, Dir das ganz fest ins Herz zu schreiben, daß es mir in dieser Frage um. eine ernsthafte, notwendige und ewige Sache gellt, so groß und so wichtig, daß sie auch unter Dahingabe des Lebens behauptet und verteidigt werden muß, und wenn die ganze Welt darob nicht nur in Unfriede und Aufruhr versetzt, sondern auch ganz in ein einziges Chaos zusammengestürzt und vernichtet werden sollte. Und wenn Du das nicht begreifst und wenn das auf Dich keinen Eindruck macht, so kümmere Dich um Deine Sachen und laß jene es begreifen und anrühren, denen Gott es gegeben hat.“

Luther unterscheidet scharf zwischen Bildworten, die immer beliebig bleiben, da dieser oder jener das Bild ja auf seine Art sieht oder übersieht, und dem Wort Gottes, das für sich selbst steht und durch nichts verändert werden kann.

„Wenn nun es irgend einem erlaubt sein soll, nach seiner Willkür Ableitungen und Bildworte in der Schrift zu erdichten, was wird dann die ganze Schrift anderes sein, als ein vom Winde hin und her bewegtes Rohr? Dann wird – gleich in welchem Glaubensartikel – fürwahr nichts Sicheres weder festgesetzt noch bewiesen werden können, mit dem Du nicht durch irgendeine Bildrede Deinen Spott treiben könntest. Man muß vielmehr jede Bildrede, welche die Schrift selber nicht erzwingt, meiden wie das allerkräftigste Gift. … Wie ist es in unserer Zeit diesen neuen Propheten mit den Worten Christi ergangen: „Dies ist mein Leib“, wo der eine für das Fürwort „dies“, der andere für das Zeitwort „ist“, der dritte für das Hauptwort „Leib“ eine bildliche Auslegung gegeben hat? Ich habe es beobachtet, daß alle Ketzereien und Irrtümer in der Schrift … aus Vernachlässigung des einfachen Wortsinns, und aus den aus dem eigenen Hirn künstlich erdichteten Bildreden und Ableitungen [entstehen]. Die Diatribe aber kümmert sich wahrhaft nicht um diesen einfachen Wortsinn, sondern bringt wirklich gewaltsam Bildreden und Ableitungen dazu.“

„Aber die angeführten Gleichnisse tragen nichts zur Sache bei, wenn es heißt: wie durch dieselbe Sonne der Schlamm hart und das Wachs flüssig wird, und durch denselben Regen das bebaute Land Früchte, das unbebaute Land Dornen hervorbringt, so werden durch dieselbe Milde Gottes die einen verstockt, die anderen bekehrt. Denn wir unterscheiden nicht zwei verschiedene Arten des freien Willens, von denen die eine wie Schlamm, die andere wie Wachs sei, oder die eine wie bebautes Land, die andere wie unbebautes, sondern wir reden von dem einen in allen Menschen gleich ohnmächtigen Willen, der nichts als Schlamm, nichts als unbebautes Land ist, da er ja nichts Gutes wollen kann. Darum, wie der Schlamm immer harter und das unbebaute Land immer dorniger wird, so wird auch der freie Wille immer schlechter ob nun die Milde der Sonne härter, ob nun das Unwetter des Regens flüssiger macht. Wenn also in allen Menschen ein auf ein und dieselbe Weise zu umschreibender und gleichmäßig ohnmächtiger freier Wille ist, so kann kein Grund angegeben werden, warum der eine zur Gnade gelangt und der andere nicht, wenn nichts anderes verkündigt wird, als die Milde des duldenden und die Strafe des sich erbarmenden Gottes. Denn alle Menschen ist der gleich umschriebene freie Wille angenommen worden: daß er nichts Gutes wollen könne. Dann erwählt Gott weder irgendeinen, noch bleibt irgendwie Raum für die Erwählung übrig, sondern es bleibt allein die Freiheit des Willens, welcher die Milde und den Zorn annimmt oder zurückweist. Wenn aber Gott des Vermögens und der Weisheit des Erwählens beraubt wird, was wird er anderes sein als ein Götzenbild des Zufalls, durch dessen Walten alles blindlings geschieht? Und schließlich wird man dahin kommen, daß die Menschen selig und verdammt werden, ohne daß Gott es weiß, da er ja nicht durch eine sichere Erwählung diejenigen geschieden hat, die selig und verdammt werden sollen, sondern es den Menschen überlassen hat, ob sie selig oder verdammt werden wollen, nachdem er allen die allgemeine duldende und verstockende Milde wie die züchtigende und strafende Barmherzigkeit angeboten hat. Er selbst ist inzwischen vielleicht zum Gastmahl bei den Aethiopiern gereist, wie Homer sagt.

Einen solchen Gott zeichnet uns auch Aristoteles, der da schläft, und seine Güte und Strafe gebrauchen und mißbrauchen läßt, wer da will. Und die Vernunft kann auch nicht anders über ihn urteilen, als hier die Diatribe tut. Denn wie sie selbst schnarcht und die göttlichen Dinge verachtet, so urteilt sie auch von Gott, daß er gleichsam schnarche, seine die Menschen erwählende, sondernde, den Geist spendende Weisheit, seinen Willen und seine Gegenwart hintangesetzt und den Menschen jene mühevolle und beschwerliche Aufgabe übertragen habe, seine Milde und seinen Zorn anzunehmen und zurückzuweisen. Dahin kommt es, wenn wir mit menschlicher Vernunft Gott messen und rechtfertigen wollen, wenn wir die Geheimnisse der Majestät nicht ehrfürchtig verehren, sondern in sie forschend eindringen, daß wir, von Scheinruhm erdrückt statt einer Entschuldigung tausend Gotteslästerungen von uns geben und unser selbst derweilen nicht eingedenk sowohl gegen Gott wie gegen uns selbst wie unsinnig schwätzen, während wir in großer Weisheit für Gott und uns sprechen wollen. Das Gleichnis von der Sonne und dem Regen taugt also hier nichts. Richtiger würde ein Christ das Gleichnis so gebrauchen, daß er Sonne und Regen das Evangelium nennt, wie es Ps. 19,5 tut und der Brief an die Hebräer 6,7 das bebaute Land aber die Auserwählten, das unbebaute die Verworfenen. Denn jene werden durch das Wort erbaut und besser; diese werden dadurch zu Fall gebracht und böser. Abgesehen davon ist der freie Wille an sich bei allen Menschen das Reich des Satans.“

Diese Übersetzung (oder dieser Scan) müsste noch einmal durchgearbeitet werden. Dennoch kommt die Botschaft Luthers deutlich zum Ausdruck. Hervorhebungen stammen von mir. Es scheint bis heute bei vielen Menschen ein Bedürfnis zu bestehen, dem einfache und fragwürdige (der Nachfrage würdige) Wahrheiten und das, was wissenschaftlich oder juristisch als Wahrheit festgehalten oder festgesetzt ist, nicht genügen. Wahrheit soll, so der am weitesten verbreitete Aberglaube, überirdisch absolut und ewig sein. Auch Luther sucht das Wahre nicht in dieser Welt, ihm ist das Wort von Menschen wichtig, aber es befriedigt sein Wahrheitsbedürfnis nicht wirklich. Doch Luthers wahrhaftige Wahrheit ist keine tote Vernunftkonstruktion, sondern eine grundlegende „Tatsache“ des Lebens: sie ist lebendig und absolut und hier und jetzt aktiv und spürbar. Luthers Wahrheit ist offen und unverstellt eine reine Glaubenswahrheit, die bewusst darauf verzichtet, die Existenz Gottes durch die Vernunft zu beweisen. Gott ist vielmehr eine einfache Tatsache, die zu bezweifeln uns nur unser Fleisch und in ihm der Teufel lehrt. Sancta simplicitas, wird nicht nur Erasmus gedacht haben.

Gott muss zu den Menschen als erster und einziger gesprochen haben, wenn es neben und über den Teufeln dieser irdischen Welt überhaupt einen Gott geben soll. Und es muss einen Gott geben, da es sonst in der Welt keinen Sinn und keine Ordnung gäbe, die es wert wären, so genannt zu werden.

Die höchste Wahrheit ist „Vertrauenssache“, sie zeigt sich als Offenbarung und sie bewährt sich im Glauben. Mit seiner Vernunft soll der Mensch Gott weder messen noch rechtfertigen. Er soll seine Welt so „lesen“, als wenn alles ein Geschenk der Gnade Gottes sei, von dem man allein hoffen darf, dass er sich in der Heiligen Schrift offenbart, dass er durch sie in menschlicher Sprache in einfachen Worten zu seinen „Kindern“ spricht. Gott wird so nahezu identisch mit dem, was man heute Natur nennt. Im 19. Psalm heißt es:

„Die Himmel erzählen die Ehre Gottes, und die Feste verkündigt seiner Hände Werk. Ein Tag sagt’s dem andern, und eine Nacht tut’s kund der andern. Es ist keine Sprache noch Rede, da man nicht ihre Stimme höre. Ihre Schnur geht aus in alle Lande und ihre Rede an der Welt Ende. Er hat der Sonne eine Hütte an ihnen gemacht; und dieselbe geht heraus wie ein Bräutigam aus seiner Kammer und freut sich wie ein Held zu laufen den Weg. Sie geht auf an einem Ende des Himmels und läuft um bis wieder an sein Ende, und bleibt nichts vor ihrer Hitze verborgen.“

Der Brief des Paulus an die Hebräer sagt im 6. Kapitel dies:

„Darum wollen wir die Lehre vom Anfang christlichen Lebens jetzt lassen und zur Vollkommenheit fahren, nicht abermals Grund legen von Buße der toten Werke, vom Glauben an Gott, von der Taufe, von der Lehre, vom Händeauflegen, von der Toten Auferstehung und vom ewigen Gericht. Und das wollen wir tun, so es Gott anders zuläßt.

Denn es ist unmöglich, die, so einmal erleuchtet sind und geschmeckt haben die himmlische Gabe und teilhaftig geworden sind des heiligen Geistes und geschmeckt haben das gütige Wort Gottes und die Kräfte der zukünftigen Welt, wo sie abfallen, wiederum zu erneuern zur Buße, als die sich selbst den Sohn Gottes wiederum kreuzigen und für Spott halten. Denn die Erde, die den Regen trinkt, der oft über sie kommt, und nützliches Kraut trägt denen, die sie bauen, empfängt Segen von Gott. Welche aber Dornen und Disteln trägt, die ist untüchtig und dem Fluch nahe, daß man sie zuletzt verbrennt.“

Eine neuere Übersetzung lautet so:

„Weil uns aber daran liegt, dass ihr im Glauben erwachsen werdet, wollen wir nicht bei den Anfangslektionen der Botschaft des Messias bleiben, sondern uns dem zuwenden, was zum Erwachsenwerden im Glauben führt. Wir müssen doch nicht immer wieder neu erklären, wie wichtig es ist, an Gott zu glauben und sich von Werken abzuwenden, die nur den Tod zur Folge haben. Ihr braucht keine weitere Unterweisung über die Bedeutung der Taufe im Unterschied zu anderen Waschungen, über die Handauflegung, die Auferstehung der Toten und das letzte Gericht mit seinem ewig gültigen Urteil. Nein, wir werden jetzt weitergehen; und wenn Gott will, wird es gelingen. Denn eins steht fest: Wenn Menschen schon einmal die Augen für die Wahrheit geöffnet bekamen, wenn sie die gute Gabe des Himmels gekostet haben und Anteil am Wirken des Heiligen Geistes erhielten, wenn sie schon Erfahrungen mit dem guten Wort Gottes und den Kräften der kommenden Welt machten und dann doch den rechten Weg verließen, ist es unmöglich, sie wieder zur Änderung ihrer Einstellung zu bewegen. Denn sie nageln den Sohn Gottes praktisch noch einmal ans Kreuz und setzen ihn dem öffentlichen Spott aus. Wenn ein Stück Land durch häufigen Regen gut bewässert wird und nützliche Pflanzen für die wachsen lässt, die es bebaut haben, ist es von Gott gesegnet. Wenn es aber nichts als Dornen und Disteln hervorbringt, ist es unbrauchbar. Es zieht den Fluch Gottes auf sich und wird am Ende abgebrannt.“

Die Aussage ist also diese: Allein die Natur kündet von Gott und wie diese ist auch die Vernunft ein Geschenk Gottes. Für sich kann diese Vernunft, so wie alle Menschen und alle „Materie“ aber nicht „zu sich selbst“, zur Wirklichkeit der Wahrheit kommen. Sie kommt von sich aus nur zur Wahrheit der Wirklichkeit und diese ist bei Luther per definitionem materiell, also teuflisch. Über allem steht dieser Chiliasmus:

„Denn jene (die das Land (dankbar und gläubig) bebaut haben) werden durch das Wort (Gottes) erbaut und besser; diese (die nur „Vernünftigen“ und Selbstbezogenen) werden dadurch zu Fall gebracht und böser. Abgesehen davon ist der freie Wille an sich bei allen Menschen das Reich des Satans.“

Es gibt für Luther also den freien Willen, die Macht der eigenen Entscheidung, aber diese Macht ist als Macht der „fleischlichen Vernunft“ per definitionem teuflisch. Luthers Teufel ist aber dennoch ein sehr merkwürdiges Wesen, er ist ja geradezu der „Gott der Materie“ und der Herr der Welt, die Verkörperung des „Willens zur Macht“, zur Herrschaft des Körpers über den „Geist“, zur Negation des wahrhaft Wahren und wirklich Wirklichen: des „Wesens“.

Luthers Teufel verkörpert die Gewalt der Zeitlichkeit gegenüber jener Kraft der Ewigkeit, in die auch das Teuflische eingesperrt ist, gegen die es sich mit all seiner Energie wehrt. Kurz: der Teufel steht für das Gefängnis der Sündhaftigkeit des Körperlich-Sinnlichen, des „Materiellen“, das dem menschlichen Geist seinen Lebensraum gibt. Der Teufel steht für das bloße Existieren, er steht für die Begierde und die Lust einer „natürlichen Vernunft“ in einem hier und jetzt lebenden, sinnes- und geistbegabten „Organismus“. Im Reformator Luther überlebt mit dieser Idee der sich selbst (seelisch) geißelnde Mönch. Nur dies bekämpft die atheistische Kritik zu recht. Sie übersieht aber bei der Kritik des Splitters in Luthers Auge, den Balken, der sich ins eigene Hirn gerammt hat: die Macht der Wissenschaftsreligion.

In einer späten Lehrschrift hat Luther das Wesen des Menschen und seine Grenzen in knappen Worten klarer beschrieben und  – bei all seinem Hass auf jene Logiker des Mittelalters, die Gott durch die Vernunft oder in der Vernunft erfassen wollten – in alt-scholastischer Manier das Primat der Theologie gegenüber der Philosophie verteidigt:

„Disputation über den Menschen (de homine (1536))

1.       Die Philosophie, die menschliche Weisheit, definiert den Menschen als vernunftbegabtes, mit Sinnen und Körperlichkeit ausgestattetes Lebewesen.

2.       Nun bedarf es jetzt nicht der Erörterung, ob der Mensch im eigentlichen oder uneigentlichen Sinne als »Tier« bezeichnet wird.

3.       Aber man muß wissen: Diese Definition bestimmt nur den sterblichen und irdischen Menschen.

4.       Und in der Tat ist es wahr, daß die Vernunft die Hauptsache von allem ist, das Beste im Vergleich mit den übrigen Dingen dieses Lebens und geradezu etwas Göttliches.

5.       Sie ist Erfinderin und Lenkerin aller freien Künste der medizinischen Wissenschaft, der Jurisprudenz und all dessen, was in diesem Leben an Weisheit, Macht, Tüchtigkeit und Herrlichkeit von Menschen besessen wird.

6.       So muß sie mit Recht als Wesensunterschied bezeichnet werden, durch den der Mensch als Mensch bestimmt wird in Unterscheidung von den Tieren und den sonstigen Dingen.

7.       Auch die heilige Schrift hat sie zu solcher Herrin über die Erde, über Vögel, Fische und Vieh eingesetzt mit dem Gebot: »Herrschet!« usw. (1.Mos. 1,28).

8.       Das heißt, sie soll eine Sonne und eine Art göttlicher Macht sein, in diesem Leben dazu eingesetzt, all diese Dinge zu verwalten.

9.       Und selbst nach Adams Fall hat Gott der Vernunft diese Hoheit nicht genommen, sondern vielmehr bestätigt.

10.   Gleichwohl, daß sie solche Majestät sei, weiß eben diese Vernunft nicht auf Grund von deren Ursache, sondern nur durch Rückschluß aus den Wirkungen.

11.   Vergleicht man deshalb die Philosophie oder die Vernunft selbst mit der Theologie, so wird sich zeigen, daß wir über den Menschen nahezu nichts wissen.

12.   Scheinen wir doch kaum seine stoffliche Ursache hinreichend wahrzunehmen.

13.   Kennt doch die Philosophie ohne Zweifel nicht die wirkende Ursache und entsprechend auch nicht die Zweckursache des Menschen.

14.   Als Zweckursache setzt sie nämlich nichts anderes als irdische Wohlfahrt; und sie weiß nicht, daß die wirkende Ursache Gott der Schöpfer ist.

15.   Über die gestaltende Ursache aber, als welche sie die Seele bezeichnen, wurde nie und wird nie unter Philosophen Einigkeit erzielt.

16.   Denn damit, daß Aristoteles sie als erste Wirklichkeit eines Körpers, der das Vermögen zu leben hat, definiert, wollte er ja Dozenten und Studenten zum Besten haben.

17.   Es besteht auch keine Aussicht, daß der Mensch vornehmlich in diesem Teil sich seinem Wesen nach erkennen könne, bis er sich endlich in der Quelle selbst, welche Gott ist, wahrgenommen haben wird.

18.   Und was jämmerlich ist: Nicht einmal über ihren Entschluß oder ihre Gedanken hat die Vernunft volle und zuverlässige Gewalt, sondern ist darin dem Zufall und der Nichtigkeit unterworfen.

19.   Jedoch, welcher Art dieses Leben ist, so beschaffen ist ebenfalls sowohl die Definition als auch die Erkenntnis des Menschen, nämlich dürftig, schlüpfrig und allzusehr an der Stofflichkeit orientiert.
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20.   Die Theologie hingegen definiert aus der Fülle ihrer Weisheit den ganzen und vollkommenen Menschen.

21.   Nämlich: Der Mensch ist Gottes Geschöpf, aus Fleisch und lebendiger Seele bestehend, von Anbeginn zum Bilde Gottes gemacht ohne Sünde, mit der Bestimmung, Nachkommenschaft zu zeugen und über die Dinge zu herrschen und niemals zu sterben;

22.   das aber nach Adams Fall der Macht des Teufels unterworfen ist, nämlich der Sünde und dem Tode – beides Übel, die durch seine Kräfte nicht zu überwinden und ewig sind;

23.   und das nur durch den Sohn Gottes Christus Jesus zu befreien ist (sofern es an ihn glaubt) und mit der Ewigkeit des Lebens zu beschenken.

24.   Unter diesen Umständen befindet sich jene allerschönste und allerherrlichste Sache, welche in voller Größe die Vernunft auch nach dem Sündenfall geblieben ist, dennoch – so ergibt sich schlüssig – unter der Macht des Teufels.

25.   Folglich ist und bleibt der Mensch ganz und ausnahmslos – er sei König, Herr, Knecht, weise, gerecht und durch welche Güter dieses Lebens auch immer er sich hervortun kann – dennoch der Sünde und dem Tod verhaftet, weil unterdrückt unter dem Teufel.

26.   Wer darum sagt, die natürlichen Kräfte des Menschen seien nach dem Fall unversehrt geblieben, philosophiert gottlos wider die Theologie.

27.   Ebenso wer sagt, der Mensch könne sich dadurch, daß er tut, was in seinen Kräften ist, Gottes Gnade und das Leben verdienen.

28.   Desgleichen wer Aristoteles (der vom Menschen in theologischer Hinsicht keine Ahnung hat) anführt, nämlich daß die Vernunft ihr Sehnen auf das Beste richte.

29.   Desgleichen daß im Menschen »das über uns als Prägezeichen gesetzte Licht von Gottes Angesicht« (PS. 4,7) sei, das heißt, freies Entscheidungsvermögen zur Hervorbringung der rechten Vorschrift und des guten Willens.

30.   Desgleichen daß es in der Verfügung des Menschen stehe, zwischen Gut und Böse oder Leben und Tod usw. zu wählen.

31.   Alle, die solches behaupten, verstehen nicht, was der Mensch ist, noch wissen sie, wovon sie reden.

32.   Paulus faßt in Röm. 3,28: »Wir erachten, daß der Mensch durch Glauben unter Absehen von den Werken gerechtfertigt wird« in Kürze die Definition des Menschen dahin zusammen, daß der Mensch durch Glauben gerechtfertigt werde.

33.   Wer vom Menschen sagt, er müsse gerechtfertigt werden, der behauptet gewiß, daß er Sünder und Ungerechter und deshalb vor Gott schuldig, jedoch durch Gnade zu retten sei.

34.   Und dabei versteht Paulus »Mensch« unbegrenzt, das heißt, allgemein, um die ganze Welt, oder was immer Mensch heißt, unter der Sünde zusammenzufassen.

35.   So ist denn der Mensch dieses Lebens Gottes bloßer Stoff zu dem Leben seiner künftigen Gestalt

36.   Wie auch die Kreatur überhaupt, die jetzt der Nichtigkeit unterworfen ist, für Gott der Stoff zu ihrer herrlichen künftigen Gestalt ist.

37.   Und wie sich Erde und Himmel im Anfang zu der nach sechs Tagen vollendeten Gestalt verhielt, nämlich als deren Stoff,

38.   so verhält sich der Mensch in diesem Leben zu seiner zukünftigen Gestalt, bis dann das Ebenbild Gottes wiederhergestellt und vollendet sein wird.

39.   Bis dahin befindet sich der Mensch in Sünden und wird tagtäglich zunehmend gerechtfertigt oder verunstaltet.

40.   Deshalb hält Paulus diese Reiche der Vernunft nicht einmal für wert, sie »Welt« zu nennen, sondern bezeichnet sie lieber als »Schemen der Welt« (1.Kor. 7,31).“

(AW 2, S.294ff; bibliographischer Nachweis: WA 39, 1)

Es gibt also bei Luther den unsterblichen, überirdischen Menschen. Die Vernunft „soll eine Sonne und eine Art göttlicher Macht sein“. Doch sie hat eine Fehler: „Als Zweckursache setzt sie nämlich nichts anderes als irdische Wohlfahrt; und sie weiß nicht, daß die wirkende Ursache Gott der Schöpfer ist.“ Die Vernunft „ist (in ihrem Tun) dem Zufall und der Nichtigkeit unterworfen“.

Was nun ist die Vision, der Luther folgen will: „Der Mensch ist Gottes Geschöpf, aus Fleisch und lebendiger Seele bestehend, von Anbeginn zum Bilde Gottes gemacht ohne Sünde, mit der Bestimmung, Nachkommenschaft zu zeugen und über die Dinge zu herrschen und niemals zu sterben“. Durch den Sündenfall aber bleibt die Vernunft „unter der Macht des Teufels“. Alle Menschen sind allesamt Sünder, die als Menschen (als Gotteskinder und Vernunftwesen) allein durch den Glauben gerechtfertigt seien.

Damit fasst sich das gesamte Konzept zusammen in dem Satz: „So ist denn der Mensch dieses Lebens Gottes bloßer Stoff zu dem Leben seiner künftigen Gestalt“. Alles fasst sich dahin zusammen, dass der gestaltende Gott Gnade walten lässt gegenüber der sündigen Kreatur, „bis dann das Ebenbild Gottes wiederhergestellt und vollendet sein wird“. Wo die Welt der Willensfreiheit und der freien Natur das Reich des Satans ist, da sind die „Reiche der Vernunft nicht einmal für wert, sie ‚Welt‘ zu nennen, sondern bezeichnet sie lieber als ‚Schemen der Welt‘“.

Alles was hier werthaft sein kann, ist das, was keine Existenz in der „Existenz“, was keine Körperlichkeit in einer endlichen Gegenstandswelt hat. Als ein absoluter Wert ist allein die Existenz des „Ganzen“ ein unbezweifelbares Faktum, verkörpert in der Person Gottes. In ihr ist alles Existierende reiner „Geist“, lebendige Substanz einer absoluten „Vernunft“, deren Ebenbild der Mensch am Ende seiner „Endlichkeit“ im Reich des „ewigen Lebens“  werden soll. Die „fleischliche“ Vernunft negiert – so Luther – allein durch ihren  „Lebenswillen“ das Göttliche und Zeitlos-Ewig-Gute dieser absoluten Substanz einer wahren und wahrhaftigen „Vernunft“, die alles schafft und alles ist. Die Menschenvernunft negiere Gott und damit die „Wahrheit“ und die „Vernunft“, wo sie sich auf das Weltliche, das Hier und Jetzt fokussiert.

Aber so wie die Vernunft endlicher Wesen nur Schemen vom ewigen Wesen der Gegenstandswelt zeichnen könne, so könne sie auch vom Göttlichen nur ein falsches, „materialistisches“ Bild malen. Gott lasse sich nicht – so wie der Mensch in seiner Erdenexistenz – in Bilder und Logiken „einfangen“, denn er ist ja alles und ohne ihn wäre einfach alles nichts. Alles Geistige sei im Reich der „natürlich-fleischlichen“ Vernunft schemenhaft hypothetisch.

Die neue und die alte Vernunft, das Wissen und der Glaube berühren sich also darin, dass ihre Wahrheiten „Bilder“ und „Hypothesen“ sind. Der Unterschied ist lediglich, dass die Wahrheit des Wissens sich stets zweifelnd-glaubend hinterfragt, während die Wahrheit des Glaubens wissend und unhinterfragt akzeptiert werden will. Das Wissen will forschen, das Glauben will Dogmen.

4. Zwischenbemerkung: Über das alte und das neue Weltbild

Neu war das Bestreben, die Sicherheit einer Erkenntnis in der Vernunft durch die Vernunft zu begründen. Alles erschien zweckmäßig und entschlüsselbar, Alles erschien einem logischen Kalkül zu unterliegen und festen Gesetzen zu erkennbaren Zwecken zu folgen. Das Göttliche und das Menschliche wurde ineinander verschmolzen. Gott war in sich selbst absolut vernünftig und der Mensch sollte und wollte Gott gleich sine. Das Vernünftige war daher das wahrhaft Wirkliche: das Göttliche war vernünftig und die Vernunft war göttlich.

Sichere Erkenntnis fand man durch Argumente, die allein aus sich selbst gelten, die in sich schlüssig und eineindeutig sind. Hegel führte die Logik dieses Denkens bis zu seiner „Vollkommenheit“, bis in den Tod der Philosophie hinein, bis hin zu einer Absurdität, in der die Existenz unwirklich und das Sprachlich-Geistige allein wahr und wirklich ist. Der führt die Logik des neuzeitlichen Denkens im wahrsten Sinne ad absurdum und zu Ende. Neu war aber von Anbeginn an das Bestreben, jeder echten und erfahrbaren Wahrheit durch Sprache und Logik ein sicheres Fundament in der Empirie zu geben und jede wahre Aussagen im Reich beweisbarer Tatsachen zu verorten. Wahrheit hatte sich in diesem Boden zweifach zu verankern: einerseits in Mathematik, Geo­metrie und Logik, andererseits in reproduzierbaren Erfahrungen. Aus diesem Bestreben erwuchs die Naturwissenschaft und die gesamte moderne Technologie mit der besonderen Ideenlogik der neuzeitliche „Ideologie“.

Noch in der Reformationszeit wollten bei­de Kirchen – die alt gewordene und die neu entstehende – diese Form der Wahrheit nicht einfach so akzeptie­ren. Und Osiander hat mit seinem Vorwort nur in Bezug auf diese religiöse Dogmatik dem Werk des Kopernikus einen Dienst erwiesen. Über Jahrzehnte setzte sich dieser Streit um den Geltungsanspruch der neuen Art von Wahrheit fort und noch 1620 strich die Katholische Kirche das Buch nur unter der Bedingung aus dem Index der verbotenen Bücher, dass

„zwölf Korrekturen an dem Werk [erfolgen], in dem Sinne, dass der Hypothesencharakter der Theorie betont wurde. Wenn diese Korrekturen gemacht wurden, war die Verwendung des Werkes aber weiterhin erlaubt.“ (wikipedia)

Die kopernikanische Wende bestimmte durch diese innere „Unschärfe“ in Bezug auf das, was wahr sein durfte, das 16. Jahrhundert und die beiden Jahrhunderte, die ihm folgten. Alt und neu waren niemals klar zu trennen. Und das Neue kam auch nie plötzlich und auf einen Schlag. Zudem: auch das Neue – das zeigten Aufklärung und Französische Revolution – kann schnell veralten, wenn die Vernunft zum Gott und die Wissenschaft zur Religion gemacht werden.

4.1. Zwischenbemerkung: Wahrheitssuche auf der Epochenschwelle

Das Geschöpf entdeckte in sich den Schöpfer, einfacher: die Menschen trauten sich in wachsender Zahl, offen und deutlich zu sagen und zu erkunden, was sie selbst im Innersten dachten und wollten. Man traute sich in immer größerer Anzahl das Ich und das Eigene – erst insgeheim und dann immer offener – auf allen Ebenen und in alle Richtungen gegen die Konventionen zu behaupten. Die historische Dimension einer Epochenschwelle, die diese „Mentalitätsänderung“ – besser vielleicht: die dieser Perspektivwechsel – bewirkt, wurde von den Zeitgenossen gar nicht bemerkt. Man spielte vielmehr ein subversives Spiel, indem man Altes mit Älterem tauschen und das „Verfälschte“ in seinem „Ursprung“ auflösen, indem man das gewordene Falsche durch das werdende Richtige „erlösen“ wollte. Das gewordene Sein sollte reines Werden werden, oder das verfehlte Leben sollte möglichst sofort ins Reich des Heils überführt werden. Das Werden sollte werden, was das Wollen wollte oder das NichtSein des Seins, das „bloß Seiende“ sollte „seinsidentisch“ werden. Die „Wahrheit“ sollte an die Stelle der „Entfremdung“ treten. In Gedanken, die alles andere als neu sein wollten, war das Neue daher nur eine zeitbedingte Unruhe, die nach zeitloser Ruhe suchte.

Die Gedanken der Reformatoren und der Revolutionäre wollten in den frühesten Anfängen gar nicht revolutionär und weltverändernd sein, sie wollten eher (nach und nach) die „ältesten“ – und als solche die „wahrsten“ – werden. Sie strebten aus einem Leben im Bösen zurück zum Ursprung im Guten (in Gott oder in der „Wahrheit“) und sie wollten vor allem anderen der Welt der Gegenwart in das „geglückte“ Ende der Zeit entfliehen. Sie wollten die Gegenwart der Vergangenheit verlassen und in eine andere Zeit, in die sogenannte „Zukunft“ aufbrechen. Auf diese Art entdeckte der Okzident schon im Hochmittelalter die geistigen Quellen des Orients, jene Welt, in der das Denken und Wissen der alten Griechen und der Römer dank einer hochentwickelten Kultur fortlebte und sich zu neuen, blühenden Wissenschaften (insbesondere Medizin, Astronomie, Mathematik und Optik) entfaltet hatte.

Auf eben diese Art begab sich die Renaissance auf den Rückmarsch in die Antike, während das Barock auf dem Rückweg aus der gebildeten, feinsinnigen Antike mit neuer Identität zu sich selbst zurück- und bei sich als Menschheit, beim Allzumenschlichen, beim Selbstbewusstsein seiner Eigenmacht und Eigenverantwortung, als in der Ära Neuzeit ankam. Doch die Suche nach dem Absoluten war nur über eine Epochenschwelle getreten, um weiter die altne Leidenschaften zu pflegen. Von Rousseau bis Marx suchte die „vollendete“ Neuzeit jetzt das wahrhaft „Natürliche“, und auf die gleichem zum Absoluten hintreibende Weise suchen heute Fundamentalisten aller Religionen und aller Nationen nach verlorener Reinheit und ursprünglicher Identität. Ebenso suchten lange vor Luther (und in dem frühen Luther selbst) katholische Reformatoren nach dem Rückweg zu den alten Regeln ihrer Orden und ihres Glaubens. Denn die Zeit entfaltet ihr Wesen, d.h. die Kraft der Veränderung, indem sie ihrem allereigensten Trugbild, ihrer ureigenen Wahrheit mit  Energie und Verbissenheit folgt.

In Luther wohnte nur eine jener beunruhigten und unruhigen Seelen, die im 16. Jahrhundert das Wahre und Absolute im Ursprünglichen suchten. Von ihm ging aber – dank seiner Thesen gegen den Ablass – (eher ungewollt und unbeabsichtigt) eine ganz neue Art der Reformation aus. Er war – mit all seinen Vorzügen und Begabungen, aber auch mit all seinen Unarten und Abscheulichkeiten – in seiner Zeit und seiner Umgebung eher allzu „normal“. Keinesfalls war er der große Spalter, Zertrümmerer und Neugestalter, er war eher ein sperriges und eigenwilliges Treibholz im Strom der Geschichte.

Das, was die Historiker bisher als Zeitalter der Glaubensspaltung bezeichneten, beschreiben heute immer mehr Forscher als Zeitalter der Konfessionalisierung. Damit ist die eigentliche Neuerung genauer benannt: Luthers Reformation steht am Anfang des Endes der Bindungskraft der Vision des doppelköpfigen Adlers, einer Weltkirche und eines sie tragenden Weltreiches, einer Kirche  unter der persönlichen Leitung eines Gottesvertreters, des Papstes und unter dem persönlichen Schutz eines Kaiser, der die Welt beherrschte. Der Lutherismus steht zusammen mit vielen anderen neuen „Bekenntnissen“ für den Sieg der Ökumene über die Theokratie und die Reformation steht am Anfang des Weges zum Menschheitsethos aller Weltregionen und Weltreligionen.

Parallel dazu entfalten sich Wissenschaften, die sich von den Vorgaben der Philosophie lösten und den Dingen zuwendeten, aus denen sich dann eine technikgeprägte Zivilisation entwickeln konnte. Dank seines Vertrauens zu den Fürsten steht das Luthertum aber zugleich – im Gegensatz zu Calvin und Zwingli, die den Bürgertum und der Stadtdemokratie mehr verbunden waren – an der Wiege einer neuen Art der Staatskirche, einer neuen Art des Bündnisses von Kirchengemeinde und Fürstentum, das sich durch die Autonomie beider Seiten und die Wechselseitigkeit vom Gallikanischen und auch vom Anglikanischen, vom reinen Etatismus, unterschied. All das begann mit der eher harmlosen Kritik am Ablassfrevel.

5. Zwischenbemerkung: Weg vom Absoluten, hin zum Konkreten

Im Reich der konkreten Endlichkeit ist der abstrakte Streit um die Wahrheit der Wahrheit im Ganzen und in Bezug auf das Absolute letztlich nicht zu entscheiden, er wechselt in Raum und Zeit nur seine Kontexte, sein Wahrsein. Wahr ist eine Aussage, die nach den geltenden Kriterien widerspruchsfrei und sinnlich „verifizierbar“ ist. Wahrheit ist ja nicht eigentlich das, was man Wissen nennt, sondern nur das, was – dank einer allgemeinen Überzeugung – mit guten Gründen geglaubt werden darf. Und für dieses Dürfen entwickelte der Zeitgeist der Zeiten im Verlauf seiner Geschichte ein zunehmend komplexes Regelwerk, dessen Kernsystem die Logik ist. Erst dank dieser Regeln wird Wahrheit – als Sprachphänomen – unabhängig von Raum und Zeit. Was  auf diese Weise für wahr gehalten, was „bedingungslos“ geglaubt wird, ist immer schon „verdinglicht“ und sich selbst in seinem Wahrsein „entfremdet“. Wahrheit, die – entzeitlicht und versachlicht – als quasi dingliche Tatsache geglaubt und gebraucht wird, macht etwas Undingliches und Abstraktes zu einen konkreten Gebrauchsgegenstand, der dann z.B. als Lehrsatz in einen Buch zu lesen ist. Auf diese Weise erwirbt eine Wahrheit ihre Existenz, in der der Begriff als „Name“ konkret und die Sache als „Ding“ abstrakt wird.

Das, was auf diese Weise wahr zu sein beansprucht, tendiert immer dazu, sich auch „im Geiste“ zu verabsolutieren, und dieser Anspruch fordert immer auch dazu auf, das „Unwahre“ in der Gegenstandwelt zu „eliminieren“. Wo die Wirklichkeit von der Wahrheit abweicht, entsteht das Bedürfnis, diesen Widerspruch aufzuheben durch die Änderung der Wirklichkeit oder aber durch die Änderung der Wahrheit.

Übereinstimmung herrscht zwischen beidem also nur in der Ideenwelt, in den Hirnkästen der Individuen, wo jenes Mega-Abstraktum wohnt, das die Köpfe der Menschen einerseits ausfüllt, das sie andererseits verbindet: die Vernunft – und ihr Instrument: die Ausdruckskraft und deren Nutzung von Medien und Zeichen, also: die Sprache im aller weitesten Sinn.

Die Neujustierungen von Wahrheitswelten und Lebenswelten kann man mit guten Gründen Re- oder Transformationen, Umwälzungen, Umwandlungen, also Revolutionen nennen. Die Geschichte der Orden in der katholischen Kirche und das gesamte 15. Jahrhundert war – lange vor Luther, Calvin und Zwingli – angefüllt mit „Reformationen“, und immer ging es um die schmale Grenze zwischen Be­feh­detem, was nolens volens zu dulden, und einem Ketzertum, das ohne Umschweife auf den Scheiterhaufen zu stellen sei.

Reformation meinte zunächst nur eine Rückkehr zu alten Regeln, die Reformatoren wollten etwas zurückbringen in seine alte, echte und „wahre“ Form. Das galt auch für die Lutheraner. Gerade deshalb suchten sie vor dem Rom der Päpste eine frühchristliche Tradition, die sie sich zum Vorbild nehmen wollten. Es ging darum, zu beweisen, dass die geltende Wahrheit das Produkt von Unmoral, Betrug und Verräterei, das die gegebene Welt die falsche Welt sei.

Es ging darum, einen selbstverschuldeten Verfallsprozess nachzuzeichnen, einen Prozess des Abfalls vom „wahren Ganzen“, einen Prozess des Zer- und Verfallens, einen Prozess, in dem der Widerstand aber immer aktiv blieb, in dem also in den Seelen wenigen „Wahrheitszeugen“ die Hoffnung auf eine Rückkehr des „Entfremdeten“ in seinen Ursprung überlebt. In der Unwahrheit blieb – gemäß dieser Vorstellung – die Wahrheit immer aktiv. Hierfür suchte man Zeugen für das Wahrsein des Ursprünglichen und aus deren Zeugnis sollte ein Bild der Vorzeit des Verfälschten rekonstruiert werden als ideales Vorbild für das, was die Gegenwart ins Heil und ins Heile zurückführt, für das, was das Kranke gesunden lässt. Und diese Zeugnisse sollten die Vorgabe sein für das, was man reformieren, „zurückformen“ wollte.

Man wollte wieder eins werden mit dem, was ursprünglich „gemeint“ war, was noch nicht verfälscht und „entfremdet“ war. Angesichts dessen, was sein sollte, verurteilte man das, was ist. Man übte sich darin, das zu verachten, was man zum eigenen Vorteil besser hochachten  sollte: das „irdische“ Leben, das Absolut-Konkrete, die Gegenwart in Raum und Zeit, die Präsenz im „Dasein Gottes“. Denn hierin suchte auch Luther nach wirklicher und echter „Wahrheit“, und hinter diesem Vorhang des Lebens- und Alltagstheaters spürte er förmlich die Präsenz der „absoluten Vernunft“, die Abwesenheit aller Teufel in einem Raum der gegenständlichen Anwesenheit des Höchsten und Wirklichsten, der echten und unverfälschten „Vernunft“. Er widmete sein Leben und Denken dem „Fleisch gewordenen Gott“, als Christus, dessen Geist ihn in den Heiligen Schriften als „Erzählung“ oder Mythos nicht nur direkt anzusprechen schien, dessen Geist ihn vielmehr unmittelbar ansprach als etwas dingliche Wahres, als etwas, das es von sich aus verbietet, einem Zweifel und einer Prüfung ausgesetzt zu werden. So wie man die eigene Existenz nicht anzweifeln konnte, so konnte man auch nicht an Gottes Existenz zweifeln, da ein Grund und ein Wille da sein musste, der allem zugrundlag und er alles zusammenhält. Dieses Selbstbewusstsein prüft also nicht Gott und die Welt auf ihre Existenz und Echtheit, sie prüft sich selbst auf innere Glaubensstärke.

Hieraus ergibt sich das, was von Luther als Wahrheit und Vernunft bezeichnet wurde. Es ging auch in der Theologie um „Wahrheit“, aber – im Gegensatz zur aufstrebenden Wissenschaft – um eine Wahrheit, die ihre Gewissheiten in der Logik des Glaubens sucht, in der Rezeption und Interpretation von möglichst unverstellten Glaubenstatsachen. Deren Original war für das Christentum allein die Heilige Schrift. Doch auch die Bibel hat eine komplexe, durch und durch menschliche Geschichte. Wichtig war für Luther nicht die Fülle und die Bedeutung der Worte, sondern die „Tatsache“, dass dieser Text das Medium war, über das das Göttlich zu den Gläubigen sprach:

„Denn aufs Kürzeste gesagt ist das Evangelium eine Rede von Christus, dass er Gottes Sohn und für uns Mensch geworden, gestorben und auferstanden und als Herr über alle Dinge gesetzt worden ist. (…)
Zum zweiten: dass du nicht aus Christus einen Mose machst, als biete er nicht mehr denn Lehre und gebe Beispiele, wie die andern Heiligen tun, als sei das Evangelium ein Lehr- oder Gesetzbuch! Darum sollst du Christi Wort, Werk und Leiden auf zweierlei Weise auffassen: Einmal als ein Vorbild, das dir vor Augen gestellt wird; dem sollst du folgen und auch so tun, wie St. Petrus sagt, 1. Petr. 2, 21: »Christus hat für uns gelitten und hat uns damit ein Vorbild hinterlassen«. Ganz wie du ihn beten, fasten, den Leuten helfen und Liebe erzeigen siehst, so sollst du auch tun im Blick auf dich und deinen Nächsten. Aber das ist das wenigste am Evangelium, wonach es auch noch nicht »Evangelium« heißen kann. Denn damit ist Christus dir nichts weiter nutz denn ein anderer Heiliger. Sein Leben bleibt bei ihm und hilft dir noch nichts, und kurzum: Diese Weise macht keinen Christen, es macht nur Heuchler; es muss noch sehr viel weiter mit dir kommen. Wiewohl jetzt lange Zeit hindurch die allerbeste (und dennoch selten geübte) Predigtweise gewesen ist.
Das Hauptstück und der Grund des Evangeliums ist, dass du Christus, ehe du ihn dir zum Vorbild nimmst, zuvor entgegennehmest und erkennest als eine Gabe und ein Geschenk, das dir von Gott gegeben und dein eigen sei. (…)
Darum siehst du: »Evangelium« ist eigentlich nicht ein Buch der Gesetze und Gebote, das von uns unser Tun forderte, sondern ein Buch der göttlichen Verheißungen, in dem er uns alle seine Güter und Wohltaten in Christus verheißt, anbietet und gibt. Dass aber Christus und die Apostel viele gute Lehren geben und das Gesetz auslegen, ist unter die Wohltaten zu rechnen wie ein anderes Werk Christi, denn recht lehren ist die geringste Wohltat nicht. Darum sehen wir auch, dass er nicht greulich drängt und treibt, wie es Mose in seinem Buch tut und es die Art des Gebotes ist, sondern lieblich und freundlich lehrt, nur sagt, was zu tun und zu lassen sei, wie es den Übeltätern und Wohltätern ergehen werde, niemanden treibt und zwingt. Ja, er lehrt auch so sanft, dass er mehr anspornt denn gebietet, hebt an und sagt: »Selig sind die Armen, selig sind die Sanftmütigen« usw. (Matth.5.3.5). Und die Apostel gebrauchen auch gemeinhin die Worte: Ich vermahne, ich bitte, ich flehe usw. Aber Mose, der spricht: Ich gebiete, ich verbiete; droht und schreckt daneben mit greulicher Strafe und Pein.
Nach dieser Unterrichtung kannst du mit Nutzen die Evangelien lesen und hören. (…)

Und Christus sagt Joh.10,2 ff., er sei die Tür, durch ihn müsse man hineingehen; und wer durch ihn hineingeht, dem tut der Türwächter (der heilige Geist) auf, dass er Weide und Seligkeit findet. So dass sich am Ende bewahrheitet, dass das Evangelium selbst Zeiger und Wegleiter in die Schrift ist, wie auch ich mit dieser Vorrede gerne das Evangelium zeigen und eine Anleitung geben wollte.
Aber sieh nur, was für feine, zarte, fromme Kinder wir sind: Damit wir nicht in der Schrift zu studieren und Christus dort kennenzulernen brauchen, halten wir das ganze Alte Testament für nichts, für etwas, das nun aus sei und nichts mehr gelte. Dabei trägt es doch allein den Namen »heilige Schrift«, und »Evangelium« sollte eigentlich nicht Schrift, sondern mündliches Wort sein, das die Schrift zu uns hinbrächte, wie es Christus und die Apostel getan haben. Darum hat auch Christus selbst nichts geschrieben, sondern nur geredet, und seine Lehre nicht Schrift, sondern Evangelium, das meint: eine gute Botschaft oder Verkündigung, genannt, die nicht mit der Feder, sondern mit dem Mund verbreitet werden sollte. Und so fahren wir nun zu und machen aus dem Evangelium ein Gesetzbuch, eine Gebotslehre, aus Christus einen Mose, aus dem Helfer einen bloßen Lehrer. Was sollte Gott nicht über ein solch dummes, verkehrtes Volk verhängen? Es ist recht und billig, dass er uns in des Papstes Lehre und in Menschenlügen hat abgleiten lassen, da wir seine Schrift fahren ließen und anstelle der heiligen Schrift die Dekretalen eines lügenhaften Narren und bösen Betrügers lernen mussten. O wollte Gott, dass doch bei den Christen das lautere Evangelium bekannt wäre und diese meine Arbeit nur schleunigst nutzlos und unnötig würde, so wäre gewiss Hoffnung, dass auch die heilige Schrift wieder hervor und zu ihrer Würde käme.“
(Ein kleiner Unterricht, was man in den Evangelien suchen und erwarten soll (1522) (AW 2, S. 198f, 200, 204f))

Vor dem Glauben und den Befolgen der Gebote und des Beispiels des elementarsten Glaubensgegenstandes (Christus als Gottesgeschenk) muss die Glaubenstatsache im Selbstbewusstsein des Glaubenden festgestellt und unverrückbar eingebrannt sein. „Reformation“ bedeutet Wiederherstellung von Gewesenem, Verlorenem oder Zerstörten. Bis heute wirkt dieser Gedanke fort in der hegelianisch-marxistischen Denkfigur der „Entfremdung“. Dort ist sie mehr als jene schlichte Art der Entfremdung, die die Konservativen empfinden, wenn ihre Traditionen Kraft und Wirkung verlieren, denn“ die hegelsche Entfremdung ist ja Vorstufe und unvermeidliche Durchgangsstation auf dem Wege zur Vollendung des „Heils“, zum Versöhntsein von Vernunft und Wirklichkeit. Der „Verfall“ des „Wahren“ ist so nur ein Schritt zur Metamorphose, zur Rückkehr ins „Wesen“, in dem Gottsuche und Selbstfindung einander ergänzen. De facto aber verwirklicht sich die Wiederbelebung des Älteren in der Verwirklichung des Idealen durch die Zerschlagung des Wirklichen. Der Realismus will das Reale an die Stelle des Wirklichen stellen und das Reale, das ist dann nur noch das Ideal, also die „wahre“ Wirklichkeit: die Welt des Ewigen und Göttlichen. Das ist Luthers Reich der wahren Vernunft, das absolute Gesetz, das mit dem Willen des Absoluten identisch ist.

De facto aber geschah dies: Man bekämpfte mit der fernen Zukunft in seiner Gegenwart die nahe Vergangenheit. Doch die ferne Zukunft war nur der Spiegel der Vorstellungen von einer fernen Vergangenheit, von den Ursprüngen der Zeit, in denen allein das Ziel des ganzen Prozessen festgelegt sein könne. Reinhard Koselleck, mein erster akademischer Lehrer im Fach Geschichte, zeigte uns Studenten damals, wie das Wort Geschichte von der Heilsgeschichte und von Gott löste, wie es die Bedeutung eines rein weltlichen Prozesses annahm, dem ein ganzheitlicher Sinn zugrunde lag, in dem sich dieser Sinn verwirklicht oder vernichtet; weiter zeigte er, wie sich dank dieser Vorstellung in der Geschichtswissenschaft ein Systembild von Zeitschichten ausbildete, die einander überlagern und durchdringen. Erst seit dieser Uminterpretation ist die Historik als Chronologie der laufenden Ereignisse mehr als ein Haufen von Geschichten, erst seitdem gibt es „die Geschichte“, die bei Hegel einem Schicksalsgott gleicht.

Auch die Ausdrücke Revolution und Reformation bekamen – wie viele Worte, die wir heute verwenden – erst im 18. und 19. Jahrhundert ihre heutige Bedeutung. Diese beruht auf dem Sieg eines neuen Zentralbegriffs: auf einem vermassten „Ichbewusstsein“, auf dem Zeitgeist eines durchgeführten Anthropozentrismus. Im deutschen Kulturraum lösten erst die Systemphilosophie des Idealismus und der Humanismus des Historismus die Fesseln der theozentrischer Weltbildnerei. Die durchgeführte Anthropozentrik setzte aber an die Stelle der Theozentrik das „wilde Denken“: eine handwerkelnde Weltbildklempnerei, die nicht zuletzt Marx mit großer Meisterschaft zu einer „Wissenschaft“ zu entfaltete suchte, die als Ideologik die Theologik beerben und ganz allein die Menschenwelt beherrschen wollte.

Die Intellektuellenschelte eines Helmut Schelsky, der insbesondere die linken Geisteshelden Priester nannte, ist daher nicht ganz und gar grundlos (vgl. sein Buch „Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen“ (1975)). Gerade der freischwebende Intellektuelle, der sich ganz auf seine geistig-sinnlichen Kräfte stützt, ist immer in Gefahr, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Doch gerade ein Denker wie Schelsky weiß, dass es „Priester“ geben muss, denn er selbst steht ja in seinem Selbstbild auf der Seite des Guten. Er ist für sich selbst gerade kein selbstbesoffener „Pfaffe“, der die ihm Anvertrauten „verführt“, sondern ein verantwortungsvoller „Hirte“, der den „Verführten“ die richtige Wegweisung gibt. Gerade als praktischer Wissenschaftler weiß ein Schelsky, dass er sich freiwillig, geradezu begierig der Kritik der „Gleichwertigen“ aussetzen muss. Das galt auch für die Priesterschaft der „vorwissenschaftlichen“ Zeit.

Im Mittelalter war die Legitimation des Klerus zwar immer umstritten, aber im Großen und Ganzen dennoch akzeptiert. Die Materie war ja nur der Inhalt, dem der göttliche Formgeber Gestalt und Leben gab. Das allumfassend „Subjektive“ ist in dieser Vorstellung das Formende, jenes Wesen, das dem Geistlosen erst einen Geist und mit ihm ein Leben einhauchen muss. Schaffend ist hier allein das Aktive, Wissende und Wollende. Das Geschaffene ist demgegenüber nur das Passive und das Empfangende, während der Schöpfer durch die Ordnungsprinzipien, die seine „Subjektivität“ der geschaffenen „Objektivität“ hinzufügt, aus einem Chaos von „Objekten“ erst das erzeugt, was Substanz und Existenz verbindet, was die „tote“ Materie in einer Gegenwart zum Leben erweckt, was aus Chaos Ordnung macht, was das Gebärende fruchtbar und produktiv macht.

Diese Verbindung von Substanz und Existenz, von schaffendem Geist und geschaffenen Geistern, erzeugt eine Gegenwart, die dem Bewusstsein seine Welt zum Gegenstand macht. Und diese Gegenwart ist dann ganz allein die „göttliche Ordnung“, die Natur, in der wir leben: sie ist – so die mittelalterliche Vorstellung – das Produkt der Präsenz der lebendigen, in sich ewigen, sich gleichbleibenden Substanz. Diese Substanz west als Wesen abwesend an in einer gegebenen Welt und im zufälligen, endlichen Bewusstsein irdisch-existenzieller „Wesen“ mit einem unglücklichen und begrenzten Selbst. Nahe bei Gott sind die Dinge als Körper in dieser Vorstellungswelt dieses Selbstbewusstseins  nur durch ihre Existenz, durch das Bewusstsein ihrer Schulden gegenüber dem, der ihnen ihren „Geist“, also ihr „Ich“ und dessen Bewusstsein schenkte.

Als rein „stoffliche“ Wesen folgen sie einer „Natur“, die erst durch das Pfingsterlebnis der Begeistung – also der Taufe – zum Bewusstsein der „Erbsünde“ gelangt und erst dadurch zur Erkenntnis des Geschöpfseins, zum Glauben an das Wahre und Gute der Schöpfung und an das Absolute, den Schöpfer,  an Gott kommen kann. Dieser glaubende „Aberglaube“ prägt als „einzig wahrer Glaube“ bis heute den „normalen“ Wahrheits- und Vernunftbegriff. Wahrheit versteht sich dann nur als Wissen um das Absolute. Man verkennt so allzu leicht das Wahrsein des Konkreten, die Macht des Lebens und der Erfahrung.

In der alten Welt lebte nur das Absolute, die Existenz war ein Geschenk, eine „Konkretisierung“ des lebendigen Absoluten. Die, die so dachten, nahmen Wahrheit wahr wie einen Gegenstand. Man nennt sie in der Philosophie „Realisten“. Man stritt in der Scholastik darüber, ob das Allgemeine oder das Einzelne wirklich sei. Luther blieb in theologischen Fragen Realist und damit ein Gegner des Primats der Philosophie, er blieb ein Formenanbeter, der die Inhalte zunehmend verachtete. Die Naturwissenschaft der „neuen“ Welt tat das Gegenteil, sie verliebte sich in die Inhalte und verachtete die Formen. Erst die Nominalisten machten jene „Materie“ zu ihrem Gegenstand, in der das „Absolutum“ im Reich des rein Menschlichen ganz konkret lebt: die Materie der Sprache, früher in der spekulativ philosophierenden Theologie der Scholastik, heute in der materialistisch analysierenden Linguistik unserer Gegenwart.

Noch heute vergessen die meisten Lehrer der Wissenschaft, die das schon Abgeschlossene genussfertig vermitteln wollen, dass allein der Nominalismus durch Neugier, Offenheit und Skepsis mit all seinem Selbstzweifel die Urquelle und der einzig verlässliche Garant der inneren Stabilität menschlicher Wahrheiten ist. Allein er ist der Geist, der diese Materie belebt. Denn in Bezug auf Gott ist ja allein eines klar: wir wissen, dass wir nichts von ihm wissen, dass wir nur Zeugnisse von Zeugen haben, deren Wissen nicht selten auf Hörensagen beruht. Von daher reden wir in Bezug auf das Göttliche immer nur von Glauben. Wir wissen, dass wir Geschöpfe sind, wir wissen aber nichts über den Schöpfer, jedenfalls nichts, was den Anforderungen der „Vernunft“, also einem eindeutigen Wissen genügen könnte. Dennoch brauchen wir offensichtlich das Göttliche, um in uns Vorstellungswelten zu konstruieren, die unseren Bedürfnissen und Erfahrungen entsprechen. Die ererbte Kultur gibt uns gewissermaßen den Text vor und wir haben dann das schon Konstruierte durch Anwendung und Erneuerung am Leben zu erhalten.

Es ist sicherlich nicht einfach, Sprache als „Materie“ zu begreifen, dir unseren „Geist“ „verstofflicht“. Das Körperliche ist in der alten Vorstellungswelt als Zufallsexistenz nur eine formlose „Masse“, es ist jener amöbenhafte Inhalt, dem das ewig Göttliche eine Lebensform erst „einhaucht“. Lebendige Körper sind – konzipiert man sie so – Inkarnationen des umgreifenden Absoluten, „Instanzen“ eines allumfassenden, selbst ungeschaffenen, alles erschaffenden Subjekts. Man macht die Vernunft und mit ihr Gott gewissermaßen zum objektorientieren Programmierer. Lebendige Körper sind dann nur Individuationen des Absoluten, sie sind aber dennoch nicht dessen Marionetten , sondern „Monaden“ und autonome Agenten, kreierte „Subjekte“, „Individuen“. So gesehen und gedacht, ist die Natur, die aus dem Schöpferwillen geboren wird, als Summe der Emanationen von Gottes Geist per definitionem der beste Beweis für die Allgegenwärtigkeit einer zeitlosen „Vernunft“, für einen göttlichen Ursprung oder gar für die Präsenz eines göttlichen Willens im Hier und Jetzt.

Gerade deshalb ist die alte scholastische Frage heute insbesondere in der Sprachphilosophie so wichtig: Was könnte sich der Schöpfer gedacht haben beim Schöpfen und was denkt er sich, wenn er das Geschaffene betrachtet? Findet er es wirklich einfach nur gut, wie die Schöpfungsgeschichte der Genesis berichtet? … oder hat er unser misslungenes Leben längst in die Mülltonne seiner ewigen Existenz, in das Nichts eines absoluten Prozesses hineingeworfen, wo es jetzt sinn- und haltlos mümmelt und tümmelt? Wir befinden uns mit diesen Fragen im Herzen dessen, was man Moral nennt. Es geht um die Bestimmung der Koordinaten dessen, was man Haltung oder Persönlichkeit nennen kann.

Die Veränderung in der persönlichen Haltung „den Dingen (gerade den „ewigen“ Dingen) gegenüber“ trennt den Zeitgeist des Mittelaltes von dem der Neuzeit , das ist auch hier bei Luther entscheidend, aber auf eine ganz andere Weise als bei Kopernikus. So wenig wie die Sterne unmittelbar greifbar waren, so wenig konnte man auch Luthers „Gegenstand“ – also Gott selbst – als Gegenstand einfach „erfassen“. Es ging bei Luthers Turmerlebnis und bei dem daraus Folgenden an allererster Stelle um Ereignisse, die sich im „Inneren“ eines Menschen abspielen. Dabei geht auch um das Verhältnis zwischen zwei verschiedenen „Dingen“: um Beziehungen zwischen den Menschen und ihrem Gott, also um einen Tatsachenbereich, der viel mehr umfasst als das, was psychologisch fassbar ist. Man betritt unfehlbar den Bereich, zu dem viele nur  sagen: „Die spinnen!“ Man darf also für die Frühe Neuzeit eine parallele Umwälzung in der Innen- und der Außenwelt des „Weltgeistes“ konstatieren, die aus dem einen Reich Gottes zwei ganz getrennte, absolut unvereinbare Menschenwelten machte: die Welt der Subjektivität und die Welt der Objektivität.

Was Kopernikus veränderte, war im ersten Moment „nur“ die Selbstverortung der menschlichen Welt. Doch dieses „nur“ war als historisches Ereignis Zündfunke und Katalysator tiefgreifender Umstülpungen, Auslöser von Prozessen, die schon lange zuvor im Boden der „Zeit“ keimten. Die Verwandlung eines in sich ruhenden Gegenstandes in einen bewegten und rotierenden Stern änderte die gewohnte Hierarchie der Begriffswelt und raubte dem Papsttum jenen fest verorteten Platz, auf dem es ungestört thronen konnte als Stellvertreter Gottes auf Erden. Die Papstkirche verlor im vorherrschenden Zeitgeist ihr Monopol als Vermittler zwischen Himmel und Erde. Die Erde wurde vielmehr selbst zum Teil eines Himmels, der einen ruhenden Zentralpunkt umkreiste, die Sonne –  und diese war, wenn man will, Gott selbst, denn man kannte noch nicht das heutige Universum der Galaxien und der Schwarzen Löcher. Die alten Vorstellungen von Himmel und Hölle, Paradies und Fegefeuer verloren ihre Plausibilität. Das Paradies verschwand zusammen mit der Hölle im Nichts, in jenem Reich, in dem jetzt auch Gott selbst hauste. Die creatio ex nihilo bekam ein ganz neues Gewicht. Der Himmel konnte nicht mehr einfach als Gottes Wohnung begriffen werden.

Die Veränderung, die Luther zusätzlich auslöste, betraf den Blick jedes einzelnen Menschen auf sich selbst. In diesem neuen Selbstbild wirkte ein Wahrheitsanspruch, dessen Wurzeln nur in der eigenen Seele zu suchen waren. Luther entdeckte in Gottes Gerechtigkeit dessen Gnade gegenüber dem, der glaubt. Das Wahre und Göttliche wohnte danach im Lebensgefühl der Menschen. Die Beziehung zu Gott wurde zur persön­lichen Angelegenheit ganz ohne Priester und Kirche. Damit war die gesamte Hierarchie der römischen Kirche infrage gestellt. Eine Gemeinde konnte nur noch aus der Seelenkraft all ihrer Mitglieder leben. Diesen „ananchistischen“ Aspekt seiner Intervention fürchtete Luther wohl mehr als alles andere, weshalb er „seine“ Konfession den Fürsten in die Hand legte. Diese Erkenntnis, die Hierarchien und Kirchen einfach negiert, war nicht neu und schon gar nicht revolutionär, aber sie traf auf einen Moment, in dem sie revolutionär wirkte.

Luther kam in sich selbst in Konflikt mit einer Kirche, die im Namen Gottes mit Kirchen­ämtern handelte und ihren Schäflein für gutes Geld alle Sünden großzügig erließ, die damit aus Eigennutz etwas tat, was sie als Glaubensinstitution gar nicht hätte tun dürfen. Der Wittenberger Reformator war nicht der erste, den dieser „Frevel“ aufwühlte und innerlich zerriss. Angesichts der skandalösen Ablasspraktiken unterminierte aber gerade in diesem Augenblick der Geschichte des Heiligen Römischen Reiches allein der massenhaft verbreitete Verweis auf diesen Widerspruch  die Legitimation einer Weltkirche, die behauptete, Gott auf der Erde durch den Papst zu repräsentieren. Es ging  nach Luther nicht mehr darum, die Päpste an Konzilsbeschlüsse zu binden. Es ging darum, das Papsttum dorthin zu jagen, wohin des gehörte: zum Teufel, obwohl alle Kräfte, die die eine Kirche er erhalten wollten, immer weiter ein Konzil aller Konfessionen forderten.

Die Reaktion der Kirchenoberen auf die Ablasskritik zeigte, dass das Monopol, den göttlichen Willen zu interpretieren, die tragende „Geschäftsgrundlage“ der damaligen Papstkirche bildete. Systematisch in Geld umgesetzt, war der Ablass nur die physische Gestalt einer „Währung“, die auf dem selbst angemaßten Unfehlbarkeitsanspruch des römischen Papstes beruhte, der seinerzeit allerdings noch gar nicht kodifiziert war.

Eigentlich war der Papst nur der Bischof von Rom. Als solcher stand er aber Aug in Aug gleichrangig und gleichwertig neben dem Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, das aus dem Zerfall des Römischen Imperiums und aus der Völkerwanderung, also aus den germanischen Stammesgesellschaften hervorging. Als höchste weltliche Macht stellte Karl der Große den Papst als Vertreter der höchsten geistlichen Macht unter seinen Schutz. Unter den Ottonen nahmen die Kaiser immer direkter Einfluss auf die Papstwahl und behaupteten das Recht, in ihrem Gebiet Kirchenämter selbst zu besetzen. So leistete der Papst dem deutschen König den Lehnseid, um dessen Schutz zu erlangen und diesen wiederum zum „Kaiser der Welt“ krönen.

Wir sprechen hier über die „überhistorisch“ wirksamen ideologischen Phänomene, nicht über die kleinlichen oder größenwahnsinnigen Motive, die in ihrer Entstehung und Entwicklung, in der konkreten Geschichte die entscheidende Rolle spielten. Denn Ideologie ist unbestreitbar die langfristig subversivste und wirksamste Macht in der Menschheitsgeschichte, was sich heute nicht zuletzt in der Existenz von Weltreligionen zeigt. Wer sagt, dass das Sein das Bewusstsein bestimme, der sollte dabei besser nicht nur an Ökonomie und Politik denken, er sollte die materiellen Kräfte der Kultur nicht unterschätzen.

Über Jahrhunderte tobte der Streit darum, ob der Kaiser oder der Papst die Kirchenämter zu besetzen hat. Theologischer Hintergrund des Investiturstreits war das kirchliche Bestreben, den Verkauf von Klöstern und Pfründen zwischen den weltlichen Herren, die sogenannte Simonie, zu verbieten. Damit verbunden war der Anspruch der Kirche, dass all das, was zu Klöstern, Kirchen und deren Pfründen gehörte, auch Kircheneigentum ist und als solches unter dem Kirchenrecht steht. Auch für die Klöster in der bürgerlichen Magdeburger Altstadt galt bis zur Reformationszeit noch das besondere kirchliche Recht. Doch das, was die Kirche zuvor als Simonie bekämpfte, machte sie nach ihrem Sieg über die Ansprüche der Kaiser zu einer „Tugend“, die zu ihrer größten Untugend wurde.

Nachdem das Papsttum sich unter dem Einfluss der französischen Könige in Avignon niedergelassen und den direkten Zugriff auf den römisch-italienischen Besitz verloren hatte, entwickelte die Kirche ein bis auf die unterste Ebene durchgreifendes System von Gebühren, die für den Akt der Investitur und die Übergabe der Amtskennzeichen zu entrichten waren, z.B. das Pallium, eine spezielle Stola bei Bischöfen. So wurde die Simonie als Kirchenpraxis wiedereingeführte, indem Ämter mit ihren Pfründen an zahlungskräftige Interessenten, manchmal sogar an Kinder oder gar Ungeborene, verkauft wurden.

Der kirchlichen Führungsschicht – von den Äbten bis zu den Päpsten – ging es in dieser Angelegenheit – wie den weltlichen Fürsten – letztlich um ein wirtschaft­liches Monopol. Der Hirte bewirtschaftete die Seelen der Gläubigen wie seinen Acker. Die Gläubigen hatten sich zu ihrer Kirche zu bekennen, wenn sie mit Gott in Kontakt kommen wollten. Die Kirche war gewissermaßen jenes Organ, das der Menschheit Gottes Dienste in der Gestalt von Gottesdiensten wie einen Handelsartikel anbot, Dienstleistungen des Himmelskönigs, durch die allein ein Zugang zu dessen Gnade möglich sein sollte. Die Kirche häufte in ihren Arsenalen jenen Schatz von gutem Willen und guten Taten an, mit dem sie – so ihre Behauptung – das Böse und das Verfehlte heilen und unschädlich machen konnte. Nach dieser Ideologie hatte die Herde ihren Hirten zu glauben, wenn sie auf „Gnade“ hoffen wollte. Sie sollte keinesfalls in sich selbst um die Wahrheit des eigenen Bekenntnisses ringen. Ringen sollte sie mit ihren Treue- und Glaubenspflichten, die den alltäglichen und leiblichen Bedürfnissen in der Regel so gar nicht entsprachen. Dies änderte sich, als Luther die Beichte aus der Liste der Sakramente strich.

Alles Innenleben hatte sich im Kontext der alten Ideologie der geistlichen Autorität unterzuordnen. Gott war bei all diesen Geschäften de nomine präsent, hatte auf Erden de facto aber nichts zu sagen. Der Hirte führte die Herde zur Quelle. Ohne ihn – so die Auffassung der Orthodoxie – wären die Schafe verdurstet. Fjodor Dostojewski machte diesen Konflikt in seiner Legende vom Großinquisitor mehr als deutlich.

Erst mit der „Gegenreformation“ (manche nennen das heute lieber die katholische Reformation oder katholische Reform) half ab 1545 das Konzil von Triest der „alten“ Kirche, von diesem Anspruch, besser vielleicht: von diesem Irrweg wegzukommen und endlich das ernst zu nehmen, was Reformatoren und Mystiker seit Jahrhunderten oft unter Lebensgefahr forderten: das Primat des Glaubens, das gegen das Primat der Macht durchzusetzen sei. Doch immer war fraglich, was für eine Organisation die Gemeinschaft der Gläubigen denn wirklich braucht.

Es waren – von oben her betrachtet – weniger die Päpste als vielmehr die Kaiser (zur Reformationszeit insbesondere Karl V.), die eine Reform der Kirchenordnung und des Kirchenlebens forderten. Man sollte bedenken, dass in Deutschland sowohl der Kurfürst Albrecht von Brandenburg als aus der Kurfürst Hermann von Wien der Reformation in den wesentlichen theologischen Fragen keinesfalls ablehnend gegenüberstanden. Beide waren als Fürsten zugleich die wichtigsten Erzbischöfe. Der Mainzer war Erzkanzler des Reiches und der Kölner traditionell der, der den neu gewählten deutschen König (den „Kaiserkandidaten“) krönte.

Der Kölner Kurfürst ging letzten Endes weiter als der Brandenburger und er scheiterte dramatischer. Nachdem Hermann von Wied zwischen 1543 und 1547 versucht hatte, eine Kirchenreform ohne Kirchenspaltung mit Hilfe von Philipp Melanchthon durchzuführen, konnte er ein Blutvergießen nur noch durch seinen Rücktritt verhindern. Das Rheinland ist daher bis heute katholisch geprägt. Der Erzbischof von Mainz und Magdeburg schlug sich nach seinem Rückzug aus Halle an der Saale (1541) ganz auf die Seite der Rekatholisierung.

6. Zwischenbemerkung: Das Gottesbild und die ewig unbeantwortbaren Fragen

Die „fortschrittliche“ Schule in der Zeit der Scholastik, die (via moderna und der Nominalismus) unterstellte Gott einen guten Willen und ein Handeln, das die Regeln der Logik strikt befolgt. Die Existenz der Natur ist in dieser „Theo-logik“ nur das äußerliche  Zeichen für eine ewige, in sich unveränderliche Ordnung, für das eine, absolut gültige „Gesetz“, das den Menschen als Wahrheit offenbar werden kann, wenn sie ihren gottgegebenen Geist benutzen, um die eigene Art und die sie umgebende Natur gewissermaßen durch Gottes Augen zu betrachten. Dieser Geist, der Gott im Gesetz der Welt und das Gesetz der Welt in Gott suchte, verband das spätmittelalterliche Denken mit dem Erbe von Plato und Aristoteles. Alles geht hervor aus der „Idee“ und das Christentum fügte dem nur sein Gottesbild hinzu.

Man konzentrierte sich ganz auf die materiellen Dinge, behielt aber dennoch Gott als Schöpfer und als ersten Gesetzgeber im Auge. Nimmt man beides zusammen, dann haben alle Existenzen von Natur aus ein nie zu tilgendes Schuldenkonto bei jenem höchsten Wesen, das alles erschafft und alles umfasst. Denn keine Inkarnation des Willens Gottes entspricht voll und ganz seinem „Gebot“. Seinen Schulden hat ein jeder all die Verdienste entgegenzustellen, die ihm möglich sind. Aus dieser spirituellen Ökonomie erschuf die römisch-katholische Kirche ihre ganz spezielle „Hauswirtschaft“, in der sie für den Höchsten den Gnadenbucherhalter spielte. Die Reformation verwandelte die Schulden des Einzelnen in Schulden gegenüber sich selbst, in jene Selbstverantwortung, die Luther „Freiheit des Christenmenschen“ nannte.

Jeder Mensch, der ja den Teufel unausrottbar in sich hatte, spielte in Luthers Geist gewissermaßen auf gottgefällige Art selbst Gott, indem er das tat, von dem er vermutete, dass Gott es so haben wollte. Jeder war also durch diese Reformation sein eigener Papst. Dieser Perspektivwechsel, der die Moral und das Gewissen ins Zentrum stellte, war ein sehr wichtiges Moment in der Entwicklung der Neuzeit. Er wirkte stilbildend bis hin zum Vernunftglauben der Aufklärung. So gefasst, umfasst das Wort Reformation weit mehr als Luthers Wirkungsgeschichte. Es waren viele Reformatoren am Werk. Auf dieser veränderten Perspektive, in der der Mensch sich selbst in sich selbst zum Zentrum seines Lebensziel und Existenzentwurfs machte, beruht sowohl der Erkenntnisoptimismus der Wissenschaft, der der noch so zögerliche Kopernikus ein erstes Fundament gab; hierauf beruhte aber genauso die frohe Botschaft, die der so energische Luther im Evangelium Christi suchte und fand. Bevor er sich vor Kaiser und Papst auf dem Reichstag zu Worms verantworten musste, schrieb er diese Thesen:

Zum ersten: Damit wir gründlich erkennen, was ein Christenmensch ist und wie es mit der Freiheit steht, die ihm Christus erworben und gegeben hat, …, will ich diese zwei Sätze aufstellen: Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan. …
Zum Zweiten: Um diese beiden widersprüchlichen Redeweisen von der Freiheit und der Dienstbarkeit zu verstehen, müssen wir daran denken, dass ein jeder Christenmensch von zweierlei Natur ist, von geistlicher und leiblicher. Nach der Seele wird er ein geistlicher, neuer, innerer Mensch genannt, nach Fleisch und Blut wird er ein leiblicher, alter und äußerer Mensch genannt. Wegen dieses Unterschiedes werden in der Schrift Sätze gesagt, die sich strikt widersprechen, so wie ich jetzt von Freiheit und Dienstbarkeit gesprochen habe. (…)
Zum Zwanzigsten: Obwohl der Mensch innerlich, nach seiner Seele, durch den Glauben voll gerechtfertigt ist und alles hat, was er haben muss  …, so bleibt er doch in diesem leiblichen Leben auf Erden und muss seinen eigenen Leib regieren und mit den Leuten umgehen. Da heben nun die Werke an, hier darf er nicht müßig gehen, da muss der Leib fürwahr mit Fasten, Wachen, Mühen und mit maßvoller Zucht bewegt und geübt werden, damit er dem inneren Menschen und dem Glauben gehorsam und gleichförmig werde, ihn nicht hindere und ihm nicht widerstrebe, wie es seine Art ist, wenn er nicht gezwungen wird. Denn ist der innere Mensch mit Gott einig, fröhlich und bereitwillig um Christi willen, … so findet er in seinem eigenen Fleisch einen widerspenstigen Willen, der der Welt dienen und suchen will, wozu es ihn gelüstet. (…)
Zum Dreißigsten: Aus dem allem ergibt sich die Folgerung, dass ein Christenmensch nicht in sich selbst lebt, sondern in Christus und seinem Nächsten. In Christus durch den Glauben, im Nächsten durch die Liebe. Durch den Glauben fährt er über sich in Gott. Aus Gott fährt er wieder unter sich durch die Liebe und bleibt doch immer in Gott und in göttlicher Liebe.  … Sieh, das ist die rechte geistliche christliche Freiheit, die das Herz frei macht von allen Sünden, Gesetzen und Geboten, welche alle andere Freiheit übertrifft wie der Himmel die Erde. Die gebe uns Gott recht zu verstehen und zu behalten. Amen.
(Luther, von der Freiheit eines Christenmenschen)

Der „äußere, alte Mensch“ und sein Leib binden die Seelenkraft an das „Materielle“, der „innere, neue Mensch“ ist durch Gott und das Geistige frei, wenn die Seele, die ja von Natur aus Gott am nächsten sei, zu Wort kommt. Ähnlich äußerte sich Hobbes in der Widmung zu seiner Schrift „De cives“ (Über die Bürger):

„Nun sind sicher beide Sätze war: Der Mensch ist ein Gott für den Menschen, und: Der Mensch ist ein Wolf für den Menschen; jener, wenn man die Bürger untereinander, dieser, wenn man die Staaten untereinander vergleicht. Dort nähert man sich durch Gerechtigkeit, Liebe und alle Tugenden des Friedens der Ähnlichkeit mit Gott; hier müssen selbst die Guten bei der Verdorbenheit der Schlechten ihres Schutzes wegen die kriegerischen Tugenden, die Gewalt und die List, d.h. die Raubsucht der wilden Tiere, zu Hilfe nehmen.“

Luther spricht hier nur vom Menschen, von dem freien Bürger, der in der Eidgenossenschaft der Bürger, seine eigenen Entscheidungen fällt. Nur ist die Eidgenossenschaft hier die Menschheit in Gänze, zumindest jedoch die christliche Gemeinschaft.

So ist die Freiheit, die aus dem Glauben kommt, gleich dem Himmelreich und höher als all die Freiheiten, die das Leben auf Erden von sich aus zu bieten hat. Wie später in Kants kategorischem Imperativ ist das Allgemeine das Maß des Individuellen. Erst im Absoluten findet man wahrhaft Wirkliches vor als etwas, das sich als „Apriori“ von sich aus zeigt und offenbart. Der neue Mensch, den Luther predigte, lebt „in Christus und seinem Nächsten“, nicht in sich. Durch das Neue Testament zeigte sich Gott den Menschen in Christus. Dieser Messias ist der Wegbahner in Bezug auf das Absolute. Die wahre Freiheit liegt nicht im Willen und Wollen des Einzelnen, sondern im gefühlten Gesetz, das in der Vorstellung von dem, was Gott will, als Gebot für alle gilt, als Gebot, konkreter: als das, was den Menschen bekannt geworden ist dank der frohen Botschaft Christi. Aus Gehorsam gegenüber dem inneren Gesetz, dem eigenen Wollen erwächst bei Luther jene Seelenkraft, die ihren Freiheit als Christ lebt.

Neu und neuzeitlich ist hier, dass die empirische Masse der Individuen also der wirkliche „Inhalt“ der körperlichen Seite der Existenz – kraft der eigenen Sinne und kraft eines in sich gefestigten Selbstbewusstseins – aus sich selbst zur richtigen „Form“ hinstrebt, sei es zur Form des richtigen Glaubens (mit Luther) oder sei zur wahren Sittlichkeit der gelebten Vernunft (mit Kant). Nicht das Gebot, sondern Glaube und Liebe, nicht die äußere Gewalt, sondern innere Bereitschaft und Überzeugung, das Ich als autonomes und selbstbestimmtes Subjekt steht hier einer absolut göttlichen „Subjektivität“ gegenüber. Es steht dort mit einem „fremdbestimmten“ Körper inmitten der „Objektivität“, inmitten der eigenen Gegenwärtigkeit in seiner Existenz als Existenz, in seiner Lebenszeit als gegenständliches Lebewesen.

Als ein Solches, als ein subjektives Objekt steht der freie Mensch als Christ einsam und ungeschützt unmittelbar als dem Absoluten gegenüber. Bei Kant begegnen sich die Wahrheit und die Wirklichkeit, Objektives und Subjektives, das „alle“ und das „ich“ auf eben diese Weise. Das Ich. der Glaube und das Wissen, diese Begriffe verkörpern im neuzeitlichen Denken sowohl das, was konkret, als auch das, was absolut ist. Dank der Aufklärung wird heute beides verbunden durch das Wort „Vernunft“. Subjektivität hat jetzt eine zweifache Erscheinungsform: a) als absolutes Wissen in der Form eines „Weltgeistes“, b) als ahnungslose „Endlichkeit“ von „Materieklumpen“, die rein zufällig in die Welt geworfen wurden, die aber allesamt gerne Gott sein würden.

Im Spiel der absoluten Form mit ihren konkreten Inhalten sind alle Teufel und Geister immer gemeinsam präsent und aktiv. Sie sind als Unwahrheit und Unwirklichkeit in diesem Spiel der Wahrheit mit der Wirklichkeit ebenso gegenwärtig wie das Göttliche; sie gleichen Engeln, die aus der Unendlichkeit ins Endliche abgestürzt sind, eingesperrt in die körperliche Gegenwärtigkeit einer Zufallsgestalt, in die Gestalt konkreter Existenzen.

Diese unaufgelöste Spannung zwischen Ewigkeit und Zeitlichkeit gilt gleichermaßen für Luther und Kant, doch Luther ist noch mitten drin im „Absterben“ des Mittelalters, wohingegen Kant am Ende der Aufklärung und am Beginn der Moderne steht. Verändert hat vor allem dies: Im Mittelalter war nichts wirklich fest und alles war jederzeit möglich. Dieses „Schwimmen“ der Existenz in einem vollkommen unbestimmten Spiel brachte erst die Neuzeit mit Descartes, Newton und Leibniz durch einen Gewaltakt zum Stillstand.

Der allmächtige Gott wurde Mechaniker und Konstrukteur eines Werkes, das ihm dank des Systems der Naturgesetze so perfekt gelungen war, dass  er gar nicht mehr auf die Idee kam, in dieses Wunderwerk einzugreifen. Die geschaffene Welt galt als die beste aller möglichen Welten, sie wurde zur vollkommensten Konstruktion, die überhaupt möglich war. Und der Mensch blieb dank seiner Intelligenz, dank seines Zugangs zur „Vernunft“ (potenziell) die Krone dieser Schöpfung. Die Menschheit hatte weiterhin die Aufgabe, sich die Erde untertan zu machen und die Gesetze der Natur zu entschlüsseln, um den Heimatstern zu seinem eigenen Nutzen und zur Freude Gottes zu beherrschen. Der Zeitgeist der Neuzeit wollte das Reich der Möglichkeiten durch das der Notwendigkeit ersetzen. Man wollte selbst Konstrukteur der eigenen Lebenswelt werden, zumindest aber als Gottes Mechaniker auf Erden das wiederherstellen, was mit dem Sündenfall verlogen ging: das Paradies. Dies war die eine Seite der Medaille. Die andere Seite war das reine Gegenteil: die Erwartung des endes der Welt und die Forderung, sich auf das Jüngste Gericht hier und jetzt durch ein gottgefälliges Leben vorzubereiten. Einerseits blühten die neuen Erkenntnisse, andererseits verbrannten die Hexen. In diesem Geist erschuf die europäische Kultur jene Naturkonzeption, die wir heute als Normalität akzeptieren und dieser Naturbegriff, den Kant geradezu rabiat in ein Reich der Zwecke einsperrte, beendete all die zuvor üblichen Debatten über das Unfass- und Unbegreifbare, über Gott und das Absolute.

An die Stelle der Theo-Logik trat die Konstrukteurslogik, an die Stelle des Lehrers, der die Zeit der Scholastik prägte, trat der Ingenieur, der sich seine eigene Welt erbaute. Ebenso radikal wie Luther den inneren und äußeren Menschen gegeneinander ins Feld führte, trennte Kant das Reich der Zwecke vom Reich der Freiheit, ein Gedanke, auf den auch Marx im „Geheimen“ wieder zurückkam, wenn er im 3. Band des Kapitals (posthum veröffentlicht) feststellt, dass das Reich der Freiheit immer erst dort beginnt, wo das der Notwendigkeit endet (S,828). Naturwissenschaft, die Newton noch Naturphilosophie nannte, kann nur als Menschheitskonstrukt Glauben verlangen. Aus der Sicht der Wissenschaft war gerade auch für den Bibelglauben und die Theologie die kritische Lektüre und historische Analyse der eiligen Schriften notwendig, um Gottes Wort und Menschenwerk sauber zu trennen. Eine der unbeantwortbaren Kernfragen der Scholastiker war damit wiederum mehrdeutig beantwortet, denn damals fragte man ja noch ganz direkt: „Ist Gottes Wille in jedem Moment im Leben präsent und aktiv? Greift Gott jederzeit willentlich ist das Geschehen auf Erden ein oder lässt er das aus Vernunftgründen lieber bleiben?“ Diese Frage stand immer hinter der Frage danach, ob die Worte der Heiligen Schrift Wahrheit, also direkt Worte aus dem Munde Gottes sind, oder aber Wiedergabe von Gehörtem, Nachbildungen, Zeichen für Erfahrungen mit dieser Wahrheit.

Die in der beginnenden Neuzeit konzipierte Vernunft beantwortete diese Frage, indem sie ausschloss, dass Gott in sein Werk eingreift. Doch diese Einseitigkeit konnte letztlich das immer noch vorhandene Bedürfnis einfachen und klaren Wahrheiten nicht befriedigen. Auf diese Macht der „einfachen“ Antworten auf die  „letzten“ Fragen konnte nur vernünftig antworten, wer den Bibeltext als Menschenwerk in den Blick nahm, wer obendrein die Unerreichbarkeit des absoluten Wissens anerkannte und diese Demut seinem Denken zugrunde legte. Das sokratische „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ beschreibt jene höchste Weisheit, die um die Grenzen des Wissens weiß, jene gelehrte Unwissenheit, in der allein Wirklichkeit und Vernunft im Menschengeist zusammenfinden können.

William von Ockham gab in der Endphase der Scholastik dem Geist des „neuen Menschen“ eine klare Form, indem er die Rationalität und Gottes Wollen in eines setzte. Er postulierte: „für den allmächtigen Willen Gottes sei alles möglich, was keinen Widerspruch einschießt“ (Flasch, S.458). Dies unterstellen alle Wissenschaftler ihren Untersuchungsgegenständen. Sie glauben daran, dass sich die Natur nach Gesetzen richtet, die durch die Wissenschaft erkannt werden können. Doch diese Einschränkung der göttlichen Allmacht wollten keineswegs alle gelten lassen. Für Luther war nicht die Logik gottgegebener Naturgesetze, sondern die Gnade Gottes das entscheidende Kriterium. Er hielt fest an der Idee von der Allmacht des göttlichen Willens, an einer Willkür, die sich nicht durch nackte Logik binden lässt. In ihm überlebte die uferlose Angst vor einer gnadenlosen Gerechtigkeit Gottes zumindest als Hintergrundgefühl.

Es war die Angst vor einer „Vernunft“, die in ihrer Freiheit, in ihrem Eigenrecht durch nichts einzuschränken ist außer durch den eigenen, hier also den göttlichen Willen. Luthers Denken verharrte im Geist der Monarchie, auch wenn der das Gemeindeleben „demokratisierte“, vertraute er auf eine bewusst „kindliche“ dem „lieben Gott“, der in seiner unfehlbaren Gerechtigkeit insbesondere dies tut: seine Kinder lieben und ihnen seine Gnade zu schenken.

Luthers Gott ließ sich nicht an logische Gesetze binden. Bei ihm blieb die absolute Vernunft ein absolutes Subjekt, eine göttliche Person, deren Existenz notwendig war, damit der Leib „dem inneren Menschen und dem Glauben gehorsam und gleichförmig werde, ihn nicht hindere und ihm nicht widerstrebe, wie es seine Art ist, wenn er nicht gezwungen wird“.

Luthers Denken war also in weiten Bereichen dem Geist eher der Mystik verhaftet: Verfolgt von Engeln und Teufeln, blieb das Selbstbewusstsein des „neuen inneren Menschen“ Gottes Willkür ausgeliefert, da es auf Erden in der Hülle des „alten äußeren Menschen“ außerhalb des Himmelreichs lebte. Im Glaubenden, der doch so sehr nach dem Paradies strebte, über­lebte die alte Angst vor der gerechten Höllenstrafe, die der gerechte Gott am Jüngsten Tag über den unverbesserlichen Sünder verhängen musste. Gerade der Gläubige fürchtete sich – bei allem Vertrauen in Gottes Gnade – weiterhin vor dem Objekt seiner „Liebe“, vor dem rächenden und strafenden Gott. Man tat, was möglich war, um sich auf die Ewigkeit und das Jüngste Gericht vorzuberei­ten.

6.1. Zwischenbemerkung: Der Mut, zu denken, und der Mut, zu glauben

Ich glaube, dass es falsch ist, in Luther nur den mittelalterlichen Mystiker und Obskuranten zu sehen, gegen den die Aufklärung das Licht der Vernunft zu verkörpern habe:

„So ist Luthers Glaubensfundamentalismus genau das Gegenteil von Kants ermutigendem, in die Moderne weisendem Satz: »Sapere aude – Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!«
Gerade heute, wo weltweit so viele blutige Kämpfe im Namen von Glaubensgewissheiten wüten, ist Kritikfähigkeit wie zugleich auch der Zweifel an eigenen Meinungen umso wichtiger.“
(http://hassprediger-luther.de/luther-und-die-vernunft/)

Luther predigte aus meiner Sicht vielmehr eher etwas, was man einen aufgeklärten Glauben nennen könnte. Man glaubt, ohne Sicherheit und Rückendeckung in den „Glaubenskonventionen“ der bestehenden Welt zu suchen. Man lässt sich vielmehr einfach hineinfallen in die Welt einer „Idee“. Dieses „Sich-Fallen-Lassen“ in eine „Leere“ totaler Unkonkretheit, totaler Abstraktion kann – im sich hineinstürzenden Geist – zwei Dimensionen öffnen:

die Dimension des Konkreten, also das Absolutum der gegenwärtigen Welt, oder aber

die begriffliche Dimension des Absoluten, die Welt des abwesenden „Sinns“ der gegenwärtigen Welt, das Reich der Suche nach absoluten Wahrheiten, die Welt von Wille und Vorstellung.

So wie der Aufgeklärte (gemäß Kant) den Mut aufbringen muss, sich in dieser fremden unübersichtlichen Welt der Ideen (die Kant Vernunft nennt)  ohne alle Vorbehalte seines eigenen Verstandes zu bedienen, so muss der freie Christenmensch (gemäß Luther) in seinem Innenleben den Mut aufbringen, mit der Kraft seiner „Seele“ dem zu glauben, was „Gott selbst sagt“, d.h. was geschrieben steht in heiligen Texten, die allen in allgemeinverständlicher Sprache vorliegen sollten:

„Denn kein gutes Werk hängt an dem göttlichen Wort wie der Glaube und kann auch nicht in der Seele sein, sondern allein das Wort und der Glaube regieren in der Seele. Wie das Wort ist, so wird auch die Seele durch es, so wie das Eisen aus der Vereinigung mit dem Feuer glutrot wird wie das Feuer. … Wenn die Seele Gottes Wort fest glaubt, dann hält sie ihn für wahrhaftig, fromm und gerecht.“ (AW I, S. 244, These 10)

Wo Luther von Glauben spricht, meint er die Freiheit, aus sich selbst heraus auf Gott zu vertrauen, sein Wort, so wie es im Text steht, ernst zu nehmen und sich seiner Gerechtigkeit auszuliefern, im Vertrauen auf deren Güte und Gnade. Er wollte aufhören, mit seinem Gott zu hadern, zu zanken. Er wollte keinen Handel betreiben um Abzüge und Zurechnungen zu einem ganz persönlichen Sündenkonto.

„ … und doch sind die Werke nicht das rechte Gut, wodurch er recht und gerecht wird vor Gott, sondern er soll sie tun aus freier Liebe umsonst, Gott zu gefallen, und dass nichts anderes darin gesucht oder angesehen werde, als dass es Gott eben so gefällt, um wessen Willen er es gern aufs Allerbeste täte. Daraus kann jeder das Maß und die Beschränkung entnehmen, den Leib zu kasteien. Denn der Mensch fastet, wacht, müht sich soviel, wie er sieht, dass dem Leib notwendig ist, seinen Mutwillen zu zügeln. Die anderen aber, die da meinen, mit Werken gerecht zu werden, die geben auf die Zügelung nicht acht, sondern sehen nur auf die Taten und meinen, wenn sie davon nur viele und große tun, so sei es wohlgetan und sie würden gerecht; die zerbrechen sich immer wieder die Köpfe und verderben ihre Leiber darüber. Das ist eine große Torheit und ein großes Missverständnis christlichen Lebens und Glaubens, dass sie ohne Glauben durch Werke gerecht und selig werden wollen.“ (AW I, S. 253; These 21)

Man sollte es einfach zugeben: Vor Luther hatte es die Seele leichter, mit der Furcht vor Strafe und Höllenpein klar zu kommen. Denn es gab eine Institution und Autoritäten, die ihr eindeutig und klar ihren Weg wiesen, die als Verwalter des göttlichen Wollens das Schuldenkonto der Gläubigen im Namen des Höchsten tilgen oder erhöhen konnten.

Heute gilt wohl das Gleiche im Reich der akademischen Dogmatik, in der Welt vorgeblich absolut sicherer Wissenschaftswahrheiten, deren Kenntnis die Schüler wie ein „Vermögen“ erwerben und mit den Lehrautoritäten nach Punkten abrechnen können als Guthaben oder Defizit im Wissen .

Eineinhalb Jahrhunderte gab es nach Luthers Intervention heftige Debatten und Kriege, die mitangestoßen wurden durch die „Freiheit“, die der Reformator sich nahm, um das, was zu seinem Glauben, zu seiner Konfession geworden war, öffentlich zu vertreten und zu verteidigen. Unendlich schwer und leidvoll war es, bis sich in einer Welt vieler Konfessionen die Ruhe einer gewissen Konsolidierung der Relgionsvielfalt wieder ausgebildet hatte, bis die  Vernunft wieder zum Tragen kam, so wie Kant es in dem Essay „Was ist Aufklärung“ beschrieb.

„Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten. … Daß aber ein Publikum sich selbst aufkläre, ist eher möglich; ja es ist, wenn man ihm nur Freiheit läßt, beinahe unausbleiblich. Denn da werden sich immer einige Selbstdenkende … finden, welche … den Geist einer vernünftigen Schätzung des eigenen Werts und des Berufs jedes Menschen selbst zu denken um sich verbreiten werden. Besonders ist hierbei: daß das Publikum, welches zuvor von [den Herrschenden] unter dieses Joch gebracht worden, sich danach selbst zwingt darunter zu bleiben … Daher kann ein Publikum nur langsam zur Aufklärung gelangen … Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit; und zwar die unschädlichste …, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen. Nun höre ich aber von allen Seiten rufen: räsonniert nicht! … Ich antworte: der öffentliche Gebrauch seiner Vernunft muß jederzeit frei sein, und der allein kann Aufklärung unter Menschen zustande bringen; der Privatgebrauch derselben aber darf öfters sehr enge eingeschränkt sein … Nun ist zu manchen Geschäften, die in das Interesse des gemeinen Wesens laufen, ein gewisser Mechanism notwendig, vermittels dessen einige Glieder des gemeinen Wesens sich bloß passiv verhalten müssen, um durch eine künstliche Einhelligkeit von der Regierung zu öffentlichen Zwecken gerichtet, oder wenigstens von der Zerstörung dieser Zwecke abgehalten zu werden. Hier ist es nun freilich nicht erlaubt, zu räsonnieren; sondern man muß gehorchen. So fern sich aber dieser Teil der Maschine zugleich als Glied eines ganzen gemeinen Wesens, ja sogar der Weltbürgergesellschaft ansieht,  … kann [es] allerdings räsonnieren, ohne daß dadurch die Geschäfte leiden, zu denen er zum Teile als passives Glied angesetzt ist.  … Der Gebrauch also, den ein angestellter Lehrer [hier: als Geistlicher] von seiner Vernunft vor seiner Gemeinde macht, ist bloß ein Privatgebrauch: weil diese immer nur eine häusliche, obwohl noch so große Versammlung ist; und in Ansehung dessen ist er als Priester nicht frei und darf es auch nicht sein, weil er einen fremden Auftrag ausrichtet. Dagegen als Gelehrter, der durch Schriften zum eigentlichen Publikum, nämlich der Welt, spricht, mithin der Geistliche im öffentlichen Gebrauche seiner Vernunft genießt einer uneingeschränkte Freiheit, sich seiner eigenen Vernunft zu bedienen und in seiner eigenen Person zu sprechen. Denn daß die Vormünder des Volks (in geistlichen Dingen) selbst wieder unmündig sein sollen, ist eine Ungereimtheit, die auf Verewigung der Ungereimtheiten hinausläuft.“ (Kant, Was ist Aufklärung)

Was bei Luther der Teufel ausrichtete, das war bei Kant die Maschine einer zweckmäßig organisierten Masse, die (als Staatsapparat und Institution) der Menschheit (also der Masse der Gesellschaftsatome, den „Zellen“ oder „Individuen“) gewissermaßen zum Körper geworden war.

Das räsonierende „Teilchen“ dieser Weltbürgergesellschaftsmaschine, also der einzelne „freie Mensch“ wird auf diese Weise – dank seiner Gedankenfreiheit – durch seine letztendlich vernünftige (also zweckkonforme) Eigenaktivität am Ende des Essays zum Garanten der Zukunft:

„Wenn denn die Natur unter dieser harten Hülle den Keim, für den sie am zärtlichsten sorgt, nämlich den Hang und Beruf zum freien Denken, ausgewickelt hat: so wirkt dieser allmählich zurück auf die Sinnesart des Volks (wodurch dieses der Freiheit zu handeln nach und nach fähiger wird) und endlich auch sogar auf die Grundsätze der Regierung, die es ihr selbst zuträglich findet, den Menschen, der nun mehr als Maschine[nteil] ist, seiner Würde gemäß zu behandeln.“ (Kant, a.a.O.)

Doch bis dahin ist es ein weiter Weg, insbesondere dies lehrte der zitierte Aufsatz „Zum Ewigen Frieden“.Zum Vertrauen in die Macht von Glaube und Vernunft gehört also vor allem anderen dies: der lange Atem.

So wie wir uns heute in Erwartung einer guten Zukunft in einer technischen Welt einrichten, so richtete Heinrich Alemann ein Messstipendium an der Johanniskirche ein, um seinen Platz im Himmelreich zu sichern.

Wer aber sollte seinem Sohn Ludwig garantieren, dass diese Stiftung auch wirkte, wenn nicht die Priester mit ihren Riten und Regeln. Doch Heinrich und sein Sohn Ludwig lebten in Zeiten, wo die Rechte der Kirche und die Verbindlichkeit der Weisungen von Klerikern fragwürdig wurden. Ein Umbruch bereitete sich vor, der dort, wo Heinrich und Ludwig Alemann lebten, zum Ausbruch und  zum Durchbruch kam, durch Luthers Mut, durch dessen Leidenschaft und durch dessen, oft „gnadenlose“ Konsequenz.

Aber dieser Umbruch erlöste niemandem vom den uralten, ewigen Fragen.

Um heute das unnütze Räsonieren, aber auch das blinde Gehorchen zu möglichst einfach und schmerzlos vermeiden, negiert man als Atheist am besten die Existenz Gottes und erklärt sich selbst oder etwas Anderes – z.B. das „Nichts“ – zum Zentralsubjekt seines „Universums“.

Dieses Universum, das jeder – dank der Sprache und der Kultur – mit allen teilt, wurde aber gerade auch durch die Intervention von Kopernikus zum menschengemachten Wahrheitssammelbecken, zu einem rein geistigen „Wesen“, zum Mythos und zu einer „autonomen“ Welt der Ideo-Logik; dieses  Reich der reinen „Geistes“ oder aber es „reinen“ Glaubens wurde gerade durch die Scholastik und die Aufklärung zu einem Reich der Vernunft, zu einer Welt, deren einziger Baustoff die „Ideen“ sind, deren Anatomie dann Kant in der Kritik der reinen Vernunft in einer Form vorlegte, die bis heute gültig ist..

Man verdrängt als naiver „Gottesleugner“ – unter Berufung auf die eigene (der die „wahre“ ) Freiheit und die eigene (oder die Absolute) Vernunft – in sich selbst ganz bewusst die letztlich doch unvermeidbare Erkenntnis, dass man so – zumindest tendenziell – die Wissenschaft zur Religion und die Vernunft zum Gottesersatz macht. Denn man leugnet, dass es unbeantwortbare Fragen gibt, die dennoch beantwortet sein wollen, wohl wissen, dass hier alle Antworten fraglich siond und fragwürdig bleiben.

Auf diese Weise wurde die Wissenschaft der Moderne durch ihren stillen oder offenen „Atheismus“ selbstgenügsam und überheblich, Sie wurde wieder „realistisch“. In ihrer Begriffsblindheitwurde sich dadurch  wiederum zum Anlass eines Bruches mit der „Systemphilosophie“ und der Utopie, der Mensch könne als Menschheit die Natur, also das Universum oder doch die Erde  durch Wissen und Technik unterwerfen und beherrschen.

Man verdrängt als (Begriffs)Realist, der am liebsten Lehrbüchern, den „Autoritäten“ und deren Kommentaren glaubt, dass es wieder einmal Zeit sein könnte für eine nominalistische Intervention, eine Intervention, die heute z.B. in der Linguistik, im lingustical turn (und im (De)Konstruktivismus) sehr spürbar ist. Auf diesem Gebiet kämpfen wir heute gerade so wie Luther wieder mit unseren „Teufeln“ und wie Kant mit Aberglaube und Unvernunft. Wir lassen dabei den gar nicht mehr mittelalterlich-scholastischen Streit über die Bedeutung der Worte in ihrer Eigenschaft als Wortgebilde wiederaufleben: den Universalienstreit.

Bei jedem Schritt über eine Epochenschwelle blicken immer mehr Menschen aus einer neuen Perspektive auf die „ewigen Fragen“ und sie stellen sich dem Unfassbaren und Unbeantwortbaren mit einer veränderten Haltung.

So kämpfte der Gläubige seit der Gründung der Bettelorden bis hin zur Reformation im Namen seines Bekenntnisses gegen den institutionellen Missbrauchs der individuellen Beziehung von Gott und Mensch. Und der Kampfplatz lag zunächst in ihm selbst. Doch er endete für die Deutschen in Dreißigjährigen Krieg und einem bis in unsere Gegenwart hinein tragenden „Religionskompromiss“.

7. Zwischenbemerkung: Luthers Gott und der Kampf gegen die Teufel

Allein durch seine Existenz ist jeder Mensch konfrontiert mit den Tatsachen des Lebens. Und in seinen Lebenserfahrungen sucht er von Natur aus selbst nach dem, was wahr ist. Er sucht auf der Basis dessen, was er vorfindet. So suchte auch Martin Luther die Wahrheit über Gott und den christlichen Glauben. Die damaligen Theologen behaupteten, dass die letztgültige Wahrheit allein in „Gottes Wort“ zu finden sei. Das Wort Gottes war aber zweierlei: es war Text und Autorität – das Wort der Bibel und das Wort des Papstes. Der Text war – so las man bei den Autoritäten – unmittelbar Ausdruck von Gottes Willen und als solcher eine sich offenbarende absolute Wahrheit. Der Papst aber war ganz eindeutig ein Mensch, ein Wesen, das bestenfalls dem Wort Gottes als „Medium“ dient, das zudem endlich ist und sich irren kann. So blieb nur noch die Bibel als Quelle der absoluten Wahrheit.

Luther nahm den Wahrheitsanspruch der Heiligen Schrift wörtlich und er wollte jedem einen Zugang zu dieser Wahrheit eröffnen. Allein die Übersetzung der Heiligen Schrift in die Volkssprache war unter den herrschenden Verhältnissen ein Affront gegenüber der Autorität der römischen Kirche, in der das Latein ja das Sakrale und Heilige geradezu verkörperte. Doch „das Volk“ nahm die deutsche Bibel sehr gerne an, denn viele Menschen misstrauten der Übermittlung der göttlichen Botschaft durch den päpstlichen Klerus und den Papst selbst. Sowohl mit der Ablasskritik als auch mit der Bibelübersetzung traf Luther den Nerv seiner Zeit und dank seiner Intervention bestimmten nicht mehr Logeleien von Dogmatikern, sondern Alltagsreflexionen den weiteren Gang der Reformation.

Intellektuelle mögen über Wahrheiten endlos und verbissen streiten; im Alltagsleben nimmt man Wahrheiten wahr als einfache „Dinge“, die so sind, wie sie sind: richtig oder falsch, brauchbar oder unbrauchbar, feststehend oder fraglich. Diese Common-Sense-Philosophie und ihr Pragmatismus hat die angelsächsische Kultur mehr geprägt als die Kultur Zentraleuropas, in der der Bereich der deutschsprachigen Kultur zwischen französischem Rationalismus und russischen Mystizismus eine eigene Denk- und Lebensweise entwickelte, die im Konflikt zwischen Absolutismus und Anarchismus ein „systematisches“ Denken zu entfalten versuchte. Im Alltagsleben sucht der menschliche Geist nach möglichst einfachen Zugängen zu einem Gott, den man ja nur deshalb sucht, weil er – dank der psychologischen Disposition und der unbeantwortbaren Fragen des Lebens – existieren muss. Es geht um das Ouid (Quidditas = Washeit) und das Haec (Haecceitas = Diesheit). Die Existenz Gottes, die Gegenständlichkeit und die Subjektivität des Absoluten, also das „Was“, wurde in der Debatte über religiöse Fragen nicht hinterfragt. Gottes Existenz durfte – so wie die Macht der Könige und Päpste – nicht infrage gestellt werden. Man versuchte lediglich mit Argumenten die Existenz eines Höchsten Wesens zu so beweisen, dass die eigene Vernunft mit diesem „Wesen“ zusammenleben und arbeiten konnte. Allein das „Wie“ dessen, was „hier“ ist, war würdig, hinterfragt zu werden darauf, ob es etwas Allgemeines oder aber etwas Besonderes, ob es etwas Wesenhaftes (Ewiges) oder nur etwas Existenzielles (Zufälliges) ist.

Daraus ergibt sich die einfache Frage: Wie kommt das, was nur existiert, bei Gott, der alles, was existiert, wie auch immer in sich umfasst, in ein gutes Licht, wie erwirbt das „Endliche“ (das Relative) die Gunst und Gnade des „Unendlichen“ (des Absoluten)? Zu Luthers Zeiten wurde Gottes Gnade käuflich und die gute Tat konnte in Geld abgegolten werden. Das lässt den, der über Gott, dessen Wissen und dessen Geist nachdenkt, mit einem größeren Ernst fragen, ob man überhaupt allein durch gute Taten zu Gott kommt. Braucht man überhaupt die Fürsprache der Kirche? Luther fand seine Antwort im sogennannte „Turmerlebnis„: Gott kommt dank seiner Gnade und seiner Gerechtigkeit zu Menschen, die fest sind im Glauben!

Das alte Weltbild von Gottvater, seinem Sohn, dem Heiligen Geist, mehr noch von Maria und all den anderen himmlischen Fürsprechern wurde durch den Protestantismus grundsätzlich infrage gestellt und neu justiert. Der einfache Mensch brauchte vor Gott keine Fürsprecher, er brauchte für ein gottgefälliges Leben allein Glauben und Gottvertrauen. Der „richtige“ Glaube – so die Überzeugung der Protestanten – stellte das Individuum unmittelbar in Bezug zu Gott. Der „falsche“ Glaube, der Aberglaube konnte aber auch durch die Reformation nicht abgeschafft werden. Bei denen, die das „Falsche“, „Ansteckende“ oder „Verführende“ aus der Welt schaffen wollten, traten leider allzu schnell Hexer und Hexen an die Stelle der Ketzer. Im neuen Glauben bekämpfte jeder in sich und um sich alle Teufel der Welt. Dass implizierte auch einen Kampf gegen das Erfahrungswissen all der Heiler und Helfer, die sich allein der „Materie“ und in ihr, so verkündete es im obigen Zitat auch Luther – dem Geist der Sünde verschrieben.

Diese Zwiespältigkeit, die im Zeitenbruch einer Epochenschwelle durch unvermeidbare Einseitigkeiten erzeugt wird,  betraf auch Kopernikus und die neu entstehende Wissenschaft. Unter diesem Aspekt – also in Bezug auf die Angst vor Teufeln und Hexen – unterschieden sich Kopernikus und Luther im Grunde noch stärker als Kopernikus und der Papst. Denn der nie offen ausgefochtene Streit zwischen Rethikus und Osiander der ideologischen Kämpfe der Neuzeit markierte als Stellvertreterkrieg die Fronten. Vernunft und Religion, Wissen und Glaube, die das Mittelalter vereinigen wollte, traten gegeneinander an wie Feinde.

Auf der einen Seite gab es Menschen, die sich – wie Charles Fourier – zutrauten, der Welt eine boreale Krone und unter diesem Hitzeschild aufzusetzen und in der Antarktis Weizen anzubauen, die die Meere mit Limonade füllen und Haie und Löwen zu liebvollen Haustieren und willfährigen Nahrungsmitteln machen wollten (Fourier, S.72ff). Sie waren – so wie die Jakobiner – bereit, in ihrer Menschenliebe ihren neuen Gott, dem neuen wahren „Menschen“, große Menschenopfer darzubringen.

Andererseits waren da die Menschen, die sich Gott unmittelbar verbunden fühlten und allein ihm dienen, allein für ihn leben wollten. Sie stellten schlimmstenfalls sich selbst als Ketzer auf den Scheiterhaufen und sie taten das nicht öffentlich, sondern insgeheim in sich selbst. Doch die kommunizierte und institutionalisierte theologische „Wahrheit“ wurde dank der Reformation zum Gegenstand des öffentlichen Diskurses und den Kirchen wurde durch den Staat die Gewalt über Leben und Tod immer mehr entzogen.

Das „Ketzertum“ wurde Normalität. Es wurde innerhalb der Schulen und Bekenntnisse schlimmstenfalls zum Gegenstand einer Pathologie des Hasses und zum Anlass von Kriegen zwischen Intellektuellen und ihren „Gemeinden“; was früher Ketzertum war, es glich dann – von oben her betrachtet – eher einer Geisteskrankheit, die ein Seelenarzt zu bekämpfen hatte. In seiner persönlichen Beziehung zu Gott wurde jeder daher mehr oder weniger ausgeprägt sein eigner Exorzist, Selbstbildner und Selbsterzieher, Inhaber eines „Selbstbewusstseins“, das „mehr“ war als er selbst.

Die Vielfalt der Glaubensbekenntnisse wurde nach und nach zu einer allgemein akzeptierten Tatsache. Die Dogmatiker rangen dafür umso entschlossener um die unanfechtbaren Glaubenswahrheiten in der geistig-geistlichen Sphäre. Unter Anleitung der Intellektuellenschulen jagten die Gläubigen in ihrer alltäglichen Welt immer verbissener das „Teuflische“ in allem Körperlichen und Materiellen, um das „Wesen“ als das Wahre und Gute, als das Richtige und Göttliche wieder zum Vorschein zubringen und die ursprüngliche Unendlichkeit in ihre gegenwärtige Endlichkeit hineinzuzwingen, um Wirklichkeit und Vernunft, Natur und Universum, Mensch und Gott zu „versöhnen“.

Das zu schaffende irdische Paradies sollte eine Welt ohne Teufel und ohne offene Fragen werden. Dieses Unterfangen konnte in seinem Irrwitz nur der Selbstmord der Menschheit werden oder aber der Wegbahner zu einer neuen „Reformation“ , Vorbereiter der Selbstbesinnung und Selbstveränderung auf einer neuen Epochenschwelle.

 

Quellenangaben

siehe Hauptartikel (Ludwig Alemann …)