Heine Alemann (1420-1499)

Heine Alemann (1420-1499)

Heine Alemann war zwischen 1465 und 1477 viermal Kämmerer und zwischen 1477-1495 achtmal Bürgermeister, danach Schultheiß.

Zusammen mit seinem Bruder Heinrich Alemann (1425-1506) lenkte er die Geschicke der Bürgerstadt. Auf Augenhöhe verhandelten sie mit dem Stadtherrn, Heine als Schiedsrichter, Heinrich als Unter­händler und Ratsgesandter.  

Am Ende stand die „concodia magna“, der Stadtfrieden von 1497. Mit Heine und Heinrich begann eine Kette von Alemannbürgermeistern, die mit wenigen Unterbrechungen bis in das Jahr 1620 reicht.

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Der Löwe im Wappen des Wappenlöwen (Detail einer Löwenfigur, die das alemannsche Wappen vor sich hält, ausgestellt im Kulturhistorisches Museum Magdeburg)

 

Inhaltsübersicht:

Die Jugendzeit: Die Familien Keller und Jordans führen das Wort im Rat
Tabelle: Bürgermeister der Familien Alemann und Keller im 14./15. Jhr.
Tabelle: Schöffen der Familien Alemann und Keller im 14./15. Jhr.
Der Rat und der Kampf um die Stadtfreiheit
Tabelle: Magdeburger Erzbischöfe im 15. Jhr.
Ein Blick in die Vorzeit der Reformation
Quellenverweise

Die Jugendzeit: Die Familien Keller und Jordans führen das Wort im Rat

Heine Alemann wurde um 1420 geboren und er starb in hohem Alter am 12. März 1499. Sein Vater Heinrich Alemann (ca. 1395-1464) war Innungsmeister der Seidenkrämer und ein wichtiger Ratsherr. Er wirkte im Hintergrund und wurde zweimal als Gesandter zum Kaiserhof geschickt. 1433, in einem Krisenjahr, war er Bürgermeister und ab 1438 Schöffe. Hans Bilring, der Bruder der Großmutter von Heine,  saß mit Heines Vater zusammen im Schöffengericht. In den ersten zwei Dritteln des 15. Jahrhunderts war Heines Vater Heinrich der einzige Alemann unter den Bürgermeistern. Das änderte sich mit seinen Söhnen. Die beiden Brüder studierten 1447 getrennt  in Leipzig und Erfurt. Danach verband sie eine langjährige Karriere im Rat.

Der Rat wurde in der Zeit von 1385 bis 1477 von den Familien Keller, Müller und Jordans dominiert. Neben ihnen gab es zahlreiche andere, herausragende Bürgermeister:

•  aus der Familie Keller Rolf, Lüdecke und Gerecke (1384 -1472),
•  aus der Familie Müller Heidecke und Heinrich (1415 und 1474).
•  dann Arndt Jordans, der Ältere: 1408-1422, der Jüngere: 1422 -1448,
•  aus der Familie Feuerhake viele Jahre Werner Feuerhake (1401 -1419),
•  Heise Rulfs (1423 -1463),
•  Claus Klumpsilber (1408 -1421) und andere.

Vom älteren Arndt Jordans, der als Oberster der städtischen Truppen die Kämpfe mit dem Stadtherren leitete,  berichtet die Schöffenchronik, dass er vom Bürgermeisterkollegen Hans von Schore 1445 in die Neustadt vertrieben wurde, weil sich der Erzbischof über ihn  beschwerte (Schöffenchronik S. 384, Wolter Mdbg. S. 68). Hans Schartow, Klaus Klumpsilber, Cyriax von Burg und Heinrich Hasse werden erwähnt als Verantwortliche für den Bau der ersten steinernen Elbbrücke anstelle der alten Holzbrücke, die ein Hochwasser zerstörte (Wolter, Mdbg. S. 67).

Die Familie Alemann scheint von 1385 – 1477 ihren Einfluss im Hintergrund geltend gemacht haben. Sie stellte wohl durchgängig Ratsmänner und wurde bei besonderen Anlässen als Geldgeber und Vermittler aktiv. Doch 1385 übergab Heines Urgroßvater Heyne Alemann (ca. 1325-ca. 1390) nach 22 Jahren das Bürgermeisteramt für die nächsten 20 Jahre (bis 1405) an seinen Schwager Rulf vom Kellere. Heines Bruder Hans heiratete Rudolf Kellers Enkeltochter Katerina. Rudolf (Rulff) Kellers Sohn Ludecke war über Jahre zusammen mit Heine Alemann Bürgermeister.

Bürgermeistern der Familien Alemann und Keller im 14./ 15. Jhr.

von Name Funktion
1373 Heine Aleman 1. Bürgermeister
1376 Heine Aleman 1. Bürgermeister
1382 Heine Alemann 1. Bürgermeister
1385 Heine Aleman 1. Bürgermeister
1385 Rulf vom Kellere 2. Bürgermeister
1388 Rulff von Keller 1. Bürgermeister
1391 Rulff von Kellere 1. Bürgermeister
1394 Rulff von Keller 1. Bürgermeister
1397 Rulff von Keller 1. Bürgermeister
1400 Rulff von Keller 1. Bürgermeister
1405 Rulf von Keller 1. Bürgermeister
1412 Lüde von Keller 1. Bürgermeister
1415 Lüdecke von Keller 1. Bürgermeister
1419 Lüdecke von Keller 1. Bürgermeister
1422 Lüdeke von Keller 1. Bürgermeister
1429 Lüdecke von Keller 1. Bürgermeister
1432 Lüdeke von Keller 1. Bürgermeister
1433 Heine Aleman 2. Bürgermeister
1441 Lüdecke Keller 2. Bürgermeister
1444 Lüdecke Keller 2. Bürgermeister
1446 Gericke Keller 1. Bürgermeister
1451 Lüdeke Keller 1. Bürgermeister
1452 Gereke von Keller 2. Bürgermeister
1454 Lüdeke von Keller 1. Bürgermeister
1455 Gerike Keller 1. Bürgermeister
1458 Gereke von Keller 1. Bürgermeister
1466 Gerke von Keller 1. Bürgermeister
1469 Gerke von Keller 1. Bürgermeister
1472 Gerke von Keller 1. Bürgermeister
1477 Heine Alemann 1. Bürgermeister
1480 Heine Alemann 1. Bürgermeister
1482 Heine Aleman 2. Bürgermeister
1483 Heine Aleman 1. Bürgermeister
1485 Heinrich Aleman 2. Bürgermeister
1486 Heine Alemann 1. Bürgermeister
1488 Heinrich Aleman 2. Bürgermeister
1489 Heine Aleman 1. Bürgermeister
1491 Heinrich Aleman 2. Bürgermeister
1492 Heine Alemann 1. Bürgermeister
1494 Heinrich Aleman 2. Bürgermeister
1495 Heine Aleman 1. Bürgermeister
1497 Heinrich Aleman 2. Bürgermeister
1498 Hanß Aleman 1. Bürgermeister
1500 Heinrich Aleman 2. Bürgermeister
1501 Hans Alemann 1. Bürgermeister
1503 Heinrich Aleman 2. Bürgermeister
1504 Hanß Aleman 1. Bürgermeister
1505 Ludewig Aleman 2. Bürgermeister
1507 Hanß Aleman 1. Bürgermeister
1508 Ludewig Aleman 2. Bürgermeister

Schöffen der Familien Alemann und Keller im 14./15. Jhr.

von Name Funktion
1371 Hans von Kellere Schöffe
1388 Kone Konninge (Korling) Schöffe
1388 Heyn Alman Schöffe
1393 Johan (Hans) Aleman Schöffe
1409 Hans Konningh (Korling) Schöffe
1422 Ludeke vom Kellere der junge Schöffe
1438 Hinrik Alman Schöffe
1464 Ludeke vom Kellere Schöffe
1464 Ludeke Alman Schöffe
1477 Hans Alman Schöffe
1478 Johan Alman Schöffe
1478 Bartholomeus vom Kellere Schöffe

Mit den Brüdern Heinrich (ca. 1425-1506) und Heine Alemann (ca. 1420-1499) begann eine Kette von Alemann-Bürgermeistern, die bis ins 17. Jahrhundert nur wenige Unterbrechungen hatte. Heine Alemann übernahm sein erstes Bürgermeisteramt, nachdem Gerecke vom Kellere aus dem oberalten Rate ausschied. Er war 5 mal Kämmerer (1458-1474), 8 mal Bürgermeister (1477-1495) und schließlich bis zu seinem Lebensende Schultheiß (1495-1499), der erste  Schultheiß mit dem Namen Alemann. In der von Hertel veröffentlichten Liste heißt es dazu:

„Anno 1495 wardt Heine Alman tho der tydt Bürgermeister von der gemeinheitt wegen, eyn olt man, thom Schulten gekorn, lieth dem Rade Anno 1499 Dingsdages nach Francisci (8. Oktober) widder dangken durch Hanse Alman, Bürgermeister, synen Szon, Johan und Hans Alman Schepen, als he unmacht haluen in egener person vor dem sittenden Radt nicht kommen konde.“

Mein Übersetzungsversuch: „Im Jahre 1495 wurde Heine Alemann, zu dieser Zeit Bürgermeister als alter Mann von der Bürgerschaft zum Schulzen gewählt, ließ dem Rat im Jahre 1499 Dienstags nach Franziskus (am 8. Oktober) seinen Dank ausrichten durch Hans Alemann, Bürgermeister, seinen Sohn, Johann und Hans Alemann, Schöffen, als er einer Ohnmacht/Unpässlichkeit halber (?) nicht selbst vor dem regierenden Rat erscheinen konnte.“

Der Rat und der Kampf um die Stadtfreiheit

Ein Blick zurück auf die Zeit vor 1477 zeigt, dass nach den heftigen Wirren um jene Erzbischöfe, die Kaiser und Papst gegen den Willen des Domkapitels einsetzten, nach 1380 mehr Kontinuität auf dem Erzbischofsstuhl eintrat.  Nicht nur, dass Kaiser und Papst die Vorschläge des Domkapitels akzeptierten, auch die Amtszeiten der Fürstbischöfe rechneten sich nun in Jahrzehnten:

Magdeburger Erzbischöfe im 15. Jhr

1383-1403 20 Jahre Erzbischof Albert IV (von Querfurt)
1403-1445 42 Jahre Erzbischof Günter II (von Schwarzenburg)
1445-1464 19 Jahre Erzbischof Friedrich III (von Beichlingen)
1465-1476 11 Jahre Erzbischof Johann (von Baiern)
1476-1513 37 Jahre Erzbischof Ernst (von Sachsen)

Keiner dieser Erzbischöfe war ein Kleriker wie Dietrich Portitz (1361-1367), schon gar keiner war der Sohn eines Tuchmachers, der nach einer Karriere als Kleriker und Fürstenberater zum Erzbischof berufen wurde. Nur noch die Söhne der Fürstenhäuser hatten eine Chance. Vielleicht erklärt sich die neue Kontinuität ja gerade aus der wachsenden Macht und Stabilität der Territorialgewalten auf dem Lande, aus der Durchsetzung eines einheitlichen Landrechts und aus der Fähigkeit der Territorialfürsten, den Landadel über die Landstände an sich zu binden.

Die Zeiten wurden dadurch nicht ruhiger, im Gegenteil: es gab fortwährend schwere außen- und innenpolitische Konflikte. Als 1384 Wenzel der Faule als Sohn des Kaisers Karl IV. die Regierung übernommen und den Magdeburger Erzbischof Albert IV. zu seinem Kanzler gemacht hatte, erhielt dieser das Recht, Landrichter im Reiche einzusetzen zur Durchsetzung des Landfriedens (nach westfälischem Recht) . Es liegt auf der Hand, dass auch die Städte eingebunden werden sollten, und für den Reichskanzler, der ja vor allem der Fürst des Erzstiftes Magdeburg war, galt das natürlich an erster Stelle für „seine“ Städte Magdeburg und Halle.

Doch Magdeburg weigerte sich:

„… unde de borgere von Magdeborch worden mannigerlei wis mit listen und mit drawe geeschet, dat se den lantvrede scholden loven und schweren, aber se wolden des nicht don, umme den willen dat on duchte dat vele Stucke in dem landvrede werden wedder dat gemeine Sassenrecht und ok wedder das stad recht. (Schöffenchronik S. 288)“

 Mein Übersetzungsversuch: “ … und die Bürger von Magdeburg wurden auf mancherlei Art und Weise mit List und Drohung gedrängt, den Landfrieden zu geloben und zu beschwören, aber sie wollten das nicht tun, weil sie dachten, dass viele Teile des Landfriedens dem allgemeinen Sachsenrecht und auch dem Stadtrecht widersprachen.“.

1385 erließ der eingesetzte Landrichter gegen die Stadt, die zuvor den Erzbischof im Kampf gegen Raubritter unterstützt hatte, eine Geldstrafe, und der Stadtherr versuchte, den Rat zum Schwur auf den Landfrieden zu zwingen, indem er die Rückerstattung der Strafe von diesem Schwur abhängig machte.

Der Magistrat lehnte das ab und andere Städte Sachsens schlossen sich an.  Heyne Alemann und Rudolf Keller werden als Bürgermeister die Weichen für diese Politik gestellt haben. Die Initiative der Fürsten, einen allumfassenden Landfrieden auch in den Städten durchzusetzen, scheiterte so in Magdeburg schon 1397. In den Anstrengungen der Territorial­gewalten zeigte sich aber schon die Kraft eines Staatwesens, das erst in der Neuzeit zu voller Größe heranwuchs. Die freien Städte, deren Autonomie bedroht war, reagierten darauf mit Bündnissen, insbesondere mit der Organisation in der Hanse. Magdeburg wurde (neben Braunschweig) zum „Vorort“ (Führungsstädte) der sächsischen Städtebundes. Parallel zur Herausbildung der Territorien in der Hand der Fürsten wuchs die Hanse zu einer mächtigen Kraft heran.

Einerseits verteidigte die Städte so ihren alten privilegierten Rechtsstatus und ihre Marktfreiheit gegen die erstarkenden Territorialherren. Andererseits verstärkten sich aber in den Städten selbst die sozialen Konflikte. Denn es war keinesfalls ausgemacht, dass das Stadtregime das Wohl aller Bürger im Auge hatte. Die Patrizier, die die Macht und den Rat in der Hand hatten, standen ja immer zwischen den Fronten: einerseits hatten sie Lehnseigentum und damit Verpflichtungen zu Adel und Klerus, andererseits trieben sie Handel und Geldgeschäfte im großem Stil, was sie in Fragen des Stadtrechts und der Wahlordnung von der Masse der Stadtbürger, insbesondere von dem kleinen Gewerbe und dem Handwerk eher trennte.

Neben den Pestwellen, die immer wieder gerade über die Städte rollten, war das Münzwesen eine ständige Quelle von sozialen Unruhen.  Jährlich zweimal wurden die Pfennige neu geprägt, und das Altgeld musste von den Städtern in der erzbischöflichen Münze auf dem Alten Markt umgetauscht werden. Durch Münzverschlechterung ließ sich dabei sehr einfach die klamme Bischofskasse auffüllen. In den Münzen für den alltäglichen Gebrauch ließ Erzbischof Albrecht IV. 1399 wieder einmal (wie schon 1390) den Gehalt an Edelmetall verringern. Er verdoppelte dadurch die Pachten und Mieten. Das rief unter den Bürgern helle Empörung hervor. Der Rat entzog den Domherren seinen Schutz und öffnete die Schleusen für eine Volkswut, die sich – einmal freigelassen – aber auch gegen ihn selbst richtete. Denn die Domherren flohen aus der Stadt und überließ die gesamte Verantwortung dem Rat der Altstadt.

Üblicherweise ließen die Magdeburger ihr Vieh im Sommer auf dem Bauernland in den Vorstädten und den umliegenden Dörfern weiden. Diese unterstanden aber unmittelbar dem Erzbischof. Der Domprobst untersagte daher den Bauern, Magdeburger Vieh auf ihre Weiden zu nehmen. Zudem störte er die Fischerei und den Fährbetrieb auf der Elbe. 1401 flohen auch die Münzer und die Münze auf dem Alten Markt lag still. Es konnten daher keine guten Pfennige mehr geprägt werden. Die neuen Münzen blieben im Verkehr.

Da die landesherrliche Obrigkeit geflohen war, stand der Rat als einzige Autorität in der Stadt plötzlich im Zentrum eines Aufruhrs. Denn die Geldentwertung traf ja vor allem Pfennigbenutzer im Kleinhandel und im Kleingewerbe sowie deren Kundschaft, wenn Preise wegen der Entwertung erhöht wurden. Am 14. September 1402 sammelte sich der „Pöbel“, wie die Historiker des 19. Jahrhunderts sich auszudrücken pflegten, auf dem Alten Markt, geführt von den kleinen Innungen, den Beckenschlägern, Schmieden und Knochenhauern. Aber auch Schuhmacher und Kürschner, die zu den fünf großen Innungen gehörten, mischten sich unter das rebellische Volk, das  durch Bürger aus den Vorstädten verstärkt wurde. Die Altstädter hatten für sie die Tore geöffnet. Die Menge erstürmte das Rathaus, setzte den Rat ab, drang zudem in die Domfreiheit ein und ver­wü­ste­te dort Domherrenkurien und Klöster. Wieder einmal  mussten große und kleine Innungen einen Kompromiss zur Sicherung des Stadtfriedens suchen. Am nächsten Tag wurden alle Bürger auf den alten Markt befohlen, und dort wurde ein neuer Rat gewählt. Man setzte die alten Währungsrela­tionen wieder in Kraft „bis die Pfennige eine feste und dauerhafte Geltung besitzen“.

Wirtschaftlich kam das die Stadt teuer zu stehen, da ja im Umland der Stadt die Preise des Erzbischofs weiter galten. Das traf auch jenen Handel, der die Stadtgrenzen überschritt. Das Konfliktpotential zwischen der Stadt und Land, Bürgern und Landesherren wurde verschärft, weil jetzt auch die bürgerliche Oberschicht ihre Interessen gefährdet sahen. Da sich die Bürger die notwendigen Lebensmittel mit Gewalt verschafften, erklärte Erzbischof Albert die Stadt für ehr- und rechtlos und der Konflikt eskalierte bis in die Nähe eines offenen Krieges.. Doch im Februar 1403 vermittelte Alberts Nachfolger Günter von Schwarzberg einen Frieden. Unter dem neuen Erzbischof ging es der Stadt kaum besser, als unter dem vorherigen. Die Konfrontation zwischen Dom und Rathaus verschärfte sich weiter. Denn wieder einmal wollten Domherren und Erzbischof die Bürgerstadt ihrer Privilegien berauben und ihrem Territorium einverleiben.  Privilegierte Stadtbürger sollten langfristig ins Heer der Staatsuntertanen eingeordnet werden.

Man muss sich die Stadt zweigeteilt vorstellen. Die Grenze zwischen Altstadt und Domfreiheit verlief über die Leiterstraße, Steinstraße und die Große Klosterstraße. Den Breiten Weg trennte eine schwere Eisenkette. In der Domfreiheit und in der Altstadt galt je ein eigenes Recht. Und doch gab es zwischen beiden Teilen mannigfaltige Verbindungen. Neben den Kurien des Domkapitels (den Wohnhöfen der Domherren) und den Klöstern findet man in der Domfreiheit Adelshöfe, die sich im Grenzbereich zwischen Dombezirk und Bürgerstadt ansiedelten. Sie organisierten in großen Teilen den Handel mit Agrarprodukten und betrieben Lobbypolitik.

In dieses Bild passt, dass auch die reichen Stadtbürger und der Magistrat selbst in vielerlei Hinsicht durch Lehnsverhältnisse an Fürsten und Landadel gebunden waren. Sie verfolgten so teilweise die gleichen Interessen wie der Landadel. Denn den Patrizierfamilien und dem Rat gehörten ja ganze Dörfer, Burgen und Güter, die bewirtschaftet und verteidigt werden mussten. So waren die Alemanns Lehnsnehmer nicht nur der Fürsten. Sie hatten auch Lehen der von Alvensleben und der Brandt von Lindaus. Die Alvensleben waren an vielen Stellen des Dombezirks präsent. Die Brandt von Lindaus hatten einen Stadthof an der Leiterstraße. Der Hof der Familie von Saldern gehörte später sogar einem Alemann, er wurde aber auch in dieser Zeit weiter von der Familie Saldern genutzt.

Häuser im Zentrum der Altstadt mit Bezug zur Familie Alemann

Die Politik des Rates und des Erzbischofs war daher zwiespältig. So führte Erzbischof Günter mit Unterstützung der Stadt einige Kriegszüge gegen Raubnester auf dem Lande, sucht also die Unterstützung durch den Rat der Altstadt. Er verteidigte aber zugleich seine Position als ein Stadtherr, der nicht durch „alte Abkommen“ in seiner Macht eingeschränkt sein will. So waren die Beziehungen zwischen den Ratsherren und dem Stadtherren immer recht kompliziert. Das Verhältnis wurde noch kompliziertes dadurch, dass die Erzbischöfe immer weniger als Geistliche und immer mehr als Fürsten agierten. In seinem ganzen Verhalten erinnerte Erzbischof Günter gar nicht mehr an einen Kirchenmann:

„Hatte schon sein Vorgänger als Wort- und Eidbrecher, als Schuldenpreller und Frauenheld nicht das Vorbild eines Landesherren und Kirchenhirten gegeben, so übertraf ihn Günther noch. Theologisch nicht vorgebildet, lehnte der Jüngling es zunächst sogar ab, sich von seiner Lockenpracht zu trennen. Als Erzbischof vernachlässigte er gänzlich seine geistlichen Pflichten, hielt mehr als drei Jahrzehnte lang nicht eine einzige Messe und wohnte fast immer in aufwendiger weltlicher Tracht den Gottesdiensten bei. Unsummen gab er aus für Gelage, Tanzfeste und Jagden.“ (Asmus, S. 374)

Es ist so kein Wunder, dass die Idee der Kirchenreform auf einen fruchtbaren Boden fiel, zugleich aber bei denen, die von den Reformatoren kritisiert wurden, die heftigste Ablehnung fand. Das endlos sich fortsetzende Scheitern der Kirchenreformer mündete so in jener Reformation, die im Heiligen Römischen Reich mit Johann Hus begann. Gegen die Schutzversprechen des Kaisers wurde Hus 1415 vom Konstanzer Konzil, wo er sich verantworten wollte, im Beisein des Kaisers auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

Hus hatte die Unterstützung der böhmischen Stände, also des Adels, der gegen den Willen des Kaisers auf seinem Recht, den böhmischen König zu wählen, bestand. Die Hinrichtung des Reformers führte daher zu den Hussitenkriegen, in denen es weniger um Religion als um Machtansprüche ging. Doch auch die Lehren von Hus wirkten weiter. 1420 starb in Magdeburg ein hussitischer Prediger, Jakob Kremer, auf dem Scheiterhaufen. Außerhalb Böhmens standen damals die Bauern und die niederen Stadtbürger allein der Front der herrschenden Stände gegenüber.

Der tiefe Gegensatz der Interessen von Stadt und Land, Bürgern und Adel äußerte sich in einer Vielzahl von „kleinen Reibereien“. Rund um Magdeburg herum gab es zu dieser Zeit viele politische und religiöse Unruhen. Die Hansetage befassten sich verstärkt mit ihnen und die verbündeten Städte hatten einander viel Unterstützung zu leisten. 1424 musste ein Aufstand in Halberstadt geschlichtet werden. 1427 griff die Hanse auch in Halle ein. Das war die Stimmung in der Stadt, als Heine und Heinrich Alemann das Licht der Welt erblickten.

In den hussitische Kriegen kämpfte die Stadt bis zum Jahre 1431 auf der Seite der kaiser­lichen Truppen. In Nürnberg bestätigte Kaiser Sigismund – offensichtlich in gutem Einvernehmen mit der Stadt – einer Delegation des Altstadtrates (Hans Wennemar, Heinrich Alemann, Johann Jordan) alle alten Rechte. Doch im gleichen Jahr wendete sich das Blatt. Scheinbar ohne Grund verließ das Domkapitel mit all seiner Habe plötzlich die Stadt. Plante man einen neuen Angriff auf die Rechte der Altstadt? Anfang 1432 erklärte der Erzbischof der Stadt ganz offen den Krieg. Der Rat suchte nach Vermittlern, bereitete sich aber zugleich energisch auf einen Waffengang vor.

Bürgermeister Arndt Jordans, von dessen späterer Vertreibung aus der Altstadt oben berichtet wurde, hatte die Führung. 1433 – Heines Vater Heinrich Alemann wurde in dieser Krise zum Bürgermeister gewählt – bannte Erzbischof Günter die Stadt. Magdeburg wandte sich an die Hanse. Im Bündnis mit den sächsischen Hansestädten fügte die Altstadt dem Stadtherrn Niederlage um Niederlage zu. Seine Schlösser und Festungen fielen in die Hände der Stadt. Der Erzbischof musste beim Kaiser und beim Konzil in Basel Hilfe suchen und von dort kamen Signale, die ihm günstig zu sein schienen.

1434 übernahm jedoch in Abwesenheit von Erzbischof und Domkapitel der Rat die Kontrolle über die gesamte Stadtbefestigung. Die Mauern in der Domfreiheit wurden erneuert, die Herrenpforte des Domkapitels geschlossen und ein hoher Turm an der Mauer hinter dem Palast des Erzbischofs errichtet. De facto verschlechterte das die Position des Erzbischofs in der Stadt erheblich.  Doch irgendwann ging  beiden Seiten das Geld aus, es kam zu einem Vergleich, der den Magdeburgischen Krieg beendete. Die Stadt erwarb die volle Befestigungshoheit. Sie musste dem Erzbischof und dem Domkapitel nur noch die freie Ein- und Ausfahrt durch die Herrenpforte gestatten und zusichern. Die Kontrolle der Außengrenze lag aber in der Hand des Rates.

Nach all diesen schmählichen Niederlagen endete Erzbischof Günthers Amtszeit mit einem gigantischen Schuldenberg und einer Stärkung der Stadtrechte. Es heißt, dass Günter sich in seinen letzten Tagen seiner geistlichen Pflichten besann und Vorkehrungen traf, die man so nicht erwartet hätte.

Erzbischof Günther bestimmte auf dem Sterbebett Friedrich von Beichlingen zum seinem Nachfolger und das Domkapitel, der Kaiser und auch der Papst folgten seinem Beschluss. Sein Nachfolger war zwar ebenfalls ein Laie.  Ihm fehlte – wie es heißt – jede geistliche Ausbildung. Aber er war im Unterschied zu Günther ein religiös gesinnter Mann und führte ein eher asketisches Leben.  Erzbischof Friedrich machte den Domprediger Dr. Heinrich Tocke zu seinem Lehrer und Berater. Beide gemeinsam brachten ernsthafte Reformen des Kirchen- und Klosterlebens auf den Weg. Von Tocke ist der Satz überliefert:

„Der Papst ist ein Sohn der Kirche, also muss er der Kirche gehorchen. Dass der Papst von niemandem gerichtet werden könne, … scheint falsch zu sein.“ (Asmus, S. 385).

In diese Zeit fällt die Jugend der Brüder Heine und Heinrich Alemann.

Ein Blick in die Vorzeit der Reformation

Bemühungen um die Reform der Kirche gab es lange vor jener Reformation, die 1515 in Wittenberg begann. Viele Stadträte standen Kirchenreformer wie Dr. Heinrich Tocke gerne zu Seite. 1455 – als der Rat der Altstadt gemeinsam mit den Schöffen die Kirchenreform des Erzbischofs energisch unterstützte – wird Heine Alemann wohl schon im Rat gesessen haben, Das Thema stand zuvor auch auf der Agenda des Konzils in Basel (1431-1449).

Tocke vertrat den Magdeburger Erzbischof. Als Gesandter des exkommunizierten Erzbischofs von Trier nahm auch dessen Sekretär, Nicolaus von Kues an diesem Konzil teil. Dieser beschränkte sich nicht darauf, die Interessen seines umstrittenen Bischofs, die Interessen von Ulrich von Manderscheid zu vertreten. Er verallgemeinerte diese vielmehr und stärkte so die Position derer, die dem Konzil die oberste Entscheidungsgewalt in Kirchenfragen geben wollten. Als Manderscheid 1436  sein Amt aufgab, wechselte Nicolaus von Kues die Fronten. Der bis heute bekannte Philosoph und Gelehrte verließ 1437 das Konzil, um als Kardinal und Gesandter des Papstes beim vorletzten byzantischen Kaiser Johannes VIII. in Konstantinopel für die Einheit der Weltkirche, also für die Vereinigung der römisch-katholischen und der griechisch-orthodoxen Kirche zu werben. Denn diese Frage war dem Kusaner doch wichtiger als Rolle des Konzils bei der Papstwahl und bei der Lösung von Kirchenproblemen. Kues trat ganz in den Dienst der Kurie. Während einer Reise durch ganz Deutschland erschien er 1451 als päpstlicher Legat in Magdeburg bei einer Synode. Kues unterstützte Tockes Reformbemühungen, aber er predigte auch gegen die Juden und gewährte dem Domkapitel einen Ablass.

Zwei Jahre später wurde Konstantinopel von Sultan Mehmet II. erobert und der letzte byzantinische Kaiser Konstantin XI abgesetzt. Der Fall der bedeutendsten christlichen Stadt verschärfte den größten Weltkonflikt der damaligen Zeit. In ganz Europa verbreitete sich die Angst vor der „Türkengefahr“. Und 1453 predigte in Magdeburg ein ganz anderer Gesandter in päpstlichem Auftrag acht Tage lang gegen den Sittenverfall für einen Kreuzzug gegen die Türken. Der Franziskaner Johannes Capestrano, ein streitbarer Mönch, hatte jahrzehntelang gegen Juden und Hussiten gewettert. Jetzt predigte er gegen die Türkengefahr. Er suchte Mitstreiter, um den Kampf des ungarischen Kriegsherrn Johann Hunyadi zu unterstützen. Durch Hunyadi erlitten die Osmanen 1456 dann auch vor Belgrad eine schwere Niederlage (Hertel/Hülße, S.233, Anm. 1). Doch 1478 erreichten sie dennoch Kärnten. So musste auch der Kaiser aktiv werden. 1480 wurden zur Aufstellung eines Reichsheeres eine Türkensteuer beschlossen.

Inzwischen war dem Laienbischof Friedrich der Wittelsbacher Johann von Bayern gefolgt. Dieser Erzbischof war im Vergleich zu seinen Vorgängern ungewöhnlich gebildet, hatte in Bologna studiert und war zuvor Bischof von Münster. Ihm folgte 1476 ein erst  12-jähriger Knabe. Der Erzbischof Ernst von Sachsen konnte sein Amt selbst erst ab 1489 ausüben konnte. Bis dahin betrieben die sächsischen Fürsten zusammen mit dem Domkapitel in seinem Namen eine Politik, die sich gegen die Privilegien der Städte richtete. Nicht zufällig häuften sich die Konflikte zwischen Altstadt und Domfreiheit gerade in diesen Jahren. Nachdem der junge Mann im Alter von 25 Jahren endlich das Ruder in die Hand selbst genommen hatte, kam es zu langwierigen Verhandlungen mit dem Rat, um die vielen Konflikte dauerhaft zu lösen.

Ernst von Sachsen starb 1513 im Alter von 50 Jahren, wenige Jahre vor der Reformation. Sein Bruder Kurfürst Friedrich der Weise übernahm als Gegenspieler von Papst und Kaiser eine Schlüsselrolle . Heine Alemann stand von 1455 bis 1499 im Zentrum all dieser Konflikte, soweit sie Magdeburg betrafen. Ich konme im nächsten Protrait auf diese Ereignisse im Detail zurück. An dieser Stelle will aber zuvor ich ein Bild der großen „Lage“ skizzieren.

Die Magdeburger Ereignisse sind keine rein lokalen Phänomene. Dank der Scholastik und ihres Ringens um die Versöhnung des göttlichen Willens mit der menschlichen Vernunft entdeckten die Menschen der Frühen Neuzeit in sich die individuellem Werte. In der Renaissance erwarb das Ich einen wachsenden Eigenwert. Die Entdeckung des Ich betraf nicht mehr nur die Fürsten, die ihr Land als persönliches Eigentum betrachteten und Gott zu einer rein moralischen Begleiterscheinung werden ließen. Die Entdeckung des Ich betraf letztlich alle in ihrer alltäglichsten Existenz:

„Bereits im Römischen Reich nutzte die Verwaltung Geburtenregister, um Steuern einzuziehen oder junge Männer für Kriege zu rekrutieren“, sagt Heidenreich. „Auch Geburtstagsfeste gehörten zum Alltag. Aber man feierte damals längst noch nicht sich selbst, sondern stellvertretend einen persönlichen Schutzgott und damit die himmlische Ordnung.“ Erst die Anleihe bei den Göttern wertete das Individuum auf; die Kirche folgte mit ihren Heiligen und Namenstagen später einem ähnlichen Prinzip. Und ebenso wie der katholische Brauch nach der Reformation an Bedeutung verlor, verschwanden mit dem Ende des Römischen Reichs auch erst einmal Geburtstagsfeiern von den Kalendern. Nach wie vor notierten zwar vor allem Adlige die Lebensdaten in ihrer Familie, um die Erbfolge abzusichern. Die großen Feste aber kehrten erst in der Renaissance zurück.

Überall wurde in dieser Zeit des Umbruchs vom Mittelalter zur Neuzeit der Mensch als eigenständiges Individuum sichtbar. Maler bildeten Porträtierte mit charakteristischen Gesichtszügen ab, der Buchdruck ermöglichte es, obrigkeitskritische Schriften zu verbreiten, und die katholische Kirche leistete sich, wie Heidenreich sagt, einen folgenschweren Unfall. „Mit ihrem Ablasshandel macht sie aus passiven gläubigen Seelen eigenverantwortlich handelnde Vertragssubjekte, die in der Lage sind, sich von ihren Sünden freizukaufen. Auch das stärkt die Idee vom Individuum.“ Und so begann der Mensch inmitten der Religionskriege des 15. und 16. Jahrhunderts damit, sich selbst zu feiern. Schriften aus dem 17. Jahrhundert berichten erstmals von den bis heute üblichen Ritualen: Gäste bringen Geschenke und erhalten, wie im Gegenzug, Speisen und Getränke. Es sind Gesten, die zeigen, wie persönliche und emotionale Bindungen immer bedeutender wurden. Bis der Geburtstag sich jedoch in allen Schichten ausbreitete, verstrichen weitere 400 Jahre.
(Der Spiegel 2018/13, S. 59, Rezension zu: Stefan Heidenreich: Geburtstag – Wie es kommt, dass wir uns selbst feiern)

Diese Einschätzung der Eigenwertigkeit der eigenen Individualität durch die Massenindividuen war auch die Frucht einer Vorgeschichte, in der das Gottesgeschenk  „Natur“ zum Erkenntnis- und Gestaltungsobjekt wurde. Unter den Schriften des Albert Magnus befinden sich z.B. Bücher wie diese: „Über den Menschen (De homine)“ und „Von Falken, Hunden und Pferden (Liber de animalibus)“. Der „neue Mensch“ löste sich aus der Bindung an die überkommenen Autoritäten, er erkannte in sich den „Macher“ seiner eigenen „Geschichte“.

Bei der Suche nach neuen Seefahrtsrouten zu den ältesten Reichen der Erde entdeckte die „Alte Welt“ auf dem Wege nach China und Indien eine für sie ganz „Neue Welt“. 1492 ankerte Christoph Kolumbus vor den Bahamas in „Westindien“. Als Seefahrernationen traten ein Jahrhundert später die Niederlande und England an die Stelle von Spanien und Portugal. In der Frühen Neuzeit entstanden in rasantem Tempo – neben Den sonstigen Entdeckungen und Eroberungen –  weltumspannende Handelsimperien, von denen die mittelalterliche Hanse nur einen Vorgeschmack gab. In einem expandierenden Universum, dessen Himmel immer detaillierter, zugleich aber immer rätselhafter wurde, glich die eigene Lebenswelt – schon vor der kopernikanischen Denkrevolution – einem schrumpfenden Raum. Die eigene Welt wurde gewissermaßen zu einem Schiff, das unter dem selbstbestimmten Kommando menschlicher Kapitäne unbekannte Weiten besegelte.

Dies alles veränderte Denken und Handeln. Die Kräfte von Stadt und Land vereinigten sich unter ihren Lehnsherren und bildeten Territorien, aus denen Nationalstaaten hervorgingen. Frankreich und England waren in Europa die Pioniere. Das Heilige Römische Reich blieb demgegenüber ein Laboratorium, in dem alle Kräfte Europas miteinander um die Vormacht rangen. Päpste und Kaiser träumten immer noch von der Einheit des weltlichen und des geistigen Universums , von einer Weltherrschaft der Stellvertreter Gottes auf Erden, von einem Reich, in dem die Sonne nie untergeht, einem Reich, dem Kaiser Karl V. am nächsten kam. Was war in dieser Welt die Rolle der Städte?

Die „Bürgerburgen“ der Fernhändler, die nach der ersten Jahrtausendwende in Zentraleuropa entstanden, konnten sich in der Nähe der Fürsten- und Bischofssitze etablieren und es gelang ihnen, weitgehende Eigenständigkeit nicht nur zu erringen, sondern auch zu behaupten.

Der Bürgerfleiß brachte ersten Formen der Industrie hervor und das Stadtbürgertum entwickelte ein eigenes Recht, das Stadtrecht, das die „Gerechtigkeit“ (das Recht auf Eigentum) und das Selbstgesetzgebungsrecht (das Recht auf eine eigene „Willkür“, auf Selbstverwaltung) sicherte. Die Städte übernahmen so zwei wesentliche Funktionen:

a) die Funktion eines „Wirtschaftsrevolutionärs“, der dem Markt eine weltumfassende Macht geben will, und

b) die Funktion der Residenzstadt, in der die Fürsten jene Bürokratie aufbauten, ohne die kein Staat funktioniert.

Von Anfang an bestand zwischen diesen zwei Funktionen ein Konflikt, den erst die Verwandlung der Stadtbürger in Staatsbürger auflöste. Und erst dieser Staat gab dem Bürger eine allumfassend gemeinsame „Identität“: zu Zugehörogkeit zu einer Eidgenossenschaft, die Stadt und Land einigte, oder aber einer „Nation“, in der alle Macht beim Regenten zusammengefasst war.

Bis zur französischen Revolution bildeten sich auch im Völkerlaboratorium des Heiligen Römischen Reiches aus den vier „nationes“, die die Organisationsstruktur der Pariser Universität und des Konstanzer Konzils bestimmten, nach und nach Nationen, in denen das Selbstverständnis von Völkern definiert wird durch ein Staatswesen, das all seine Mitglieder durch Bürgerrechte und -pflichten zu Staatsbürgern macht. Innerhalb der phantasmagorischen Einheit des „Heiligen Römischen Reiches“ entstanden so jene Nationen, die bis ins Zwanzigste Jahrhundert um ihre staatlich-nationale „Identität“ kämpften. Das „Heilige Römische Reich“ löst sich im 16./17. Jahrhuzndert von Italien und Rom und erweiterte seinen Namen mit dem Zusatz: „…deutscher Nation„. Es löste sich immer deutlicher ab von der alten Idee des Weltreiches, konkret also vom Papst und von Italien und verwandelte sich immer deutlicher in des Reich der Habsburger mit dem Zentrum Wien. Im 18. Jahrhundert übernahmen dann durchgehend Volkswirtschaften und Nationalstaaten die Rolle der europäischen Städte des 11. –15. Jahrhunderts. Diesen Prozess beschreibt Fernand Braudel in seiner Sozialgeschichte des 15.–18. Jahrhunderts im 3. Band Aufbruch zur Weltwirtschaft (München 1986).

Auf Basis der weltumspannenden Vernetzung von Handel und Manufakturen bildeten sich Staaten heraus, die die Weltordnung grundlegend veränderten – wiederum in der Doppelfunktion der Weltmacht einerseits und des Geld-, Handels- und Gewerbezentrum andererseits. Die Freie Reichsstadt, die in der ersten Hälfte des zweiten Jahrtausends für sich die Autonomie eines besonderen „Individuums“ beanspruchte, wurde in der zweiten Hälfte dieses Millenniums zur Hauptstadt eines nationalstaalichen „Gemeinwesens“. Dieser Übergang von der Stadtfreiheit zur Staatsbindung war sehr konfliktreich.

Von Venedig, Florenz, Antwerpen, Brüssel und Augsburg aus begannen die Kaufleute, ihre Könige, Kaiser und Päpste zu finanzieren, und diese  gerieten in immer tiefere Abhängigkeit von den Geldmächten. Mehr und mehr setzte sich das Denken einer kühl kalkulierenden, praktisch-kom­merziellen Vernunft durch gegen die alten Leidenschaften der Machtkämpfe einiger „Herren“.

Und mit der Monetarisierung der Wirtschaft einher ging eine Verrechtlichung der Politik. Am Anfang dieser Entwicklung stand die Wiederauferstehung des weltlichen Römischen Rechts, das das römische Kirchenrecht immer mehr in den Hintergrund drängte. Im Verlauf dieses Siegeszuges übernahmen auch die juristischen Fakultäten an den jungen Universitäten immer mehr die Schiedsrichterrolle der alten Schöffenstühle und Fürstenhöfe.

Seit der ersten Jahrtau­send­wende gelangte zuvor unbekanntes Wissen aus Persien, Arabien und Nordafrika über Sizilien und Spanien nach Europa. Der „horror vaccui“, dem Aristoteles mit der Ablehnung leerer Räume Vorschub geleistet hatte, wich einer wissenschaftlichen Neugier. Die Präsenz der „Fülle“ der Autoritäten im alltäglichen Denken der Menschen, diese Macht der Tradition, die keine Leere zuließ, wich einem neuen Lebensgefühl, einer zuvor unbekannten „Weltoffenheit“. Nicht zufällig befasst sich Otto von Guericke mit dem Vakuum, mit jener Leere, die die mittelalterliche Christenheit so fürchtete, dass ihr Kalender mit der Zahl 1 – und nicht mit 0 – begann, weshalb wir bis heute jedes neue Jahr ein Jahr zu früh beginnen. Jedes Baby wird seither alterslos geboren und man sagt zwölf Monate lang, es sei ein Jahr alt. Auch den Wechsle von Dekaden, Jahrhunderten und Millenien feiern wir so eigentlich ein Jahr zu früh. All dies ändert sich, wenn man die Null wie eine normale Zahl behandelt. So verbündeten sich die Neugier der Scholastik mit der neuen Denk- und Rechenweise der Frühen Neuzeit.

Mit der Neugier ind der „Null“ konnte auch der alte „Horror vacui“ überwunden werden. Mit dem vom Orient her eindringenden, antiken Wissen öffnete sich im Spätmittelalter ein neuer Raum der Abstraktion. Die Wahrheit war nicht mehr vorgegeben, sie musste immer erst noch entdeckt und jederzeit neu geprüft werden. Nicht mehr die Autoritäten und das Heilige, das Gegenständliche und das Konkrete trat in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.

Die Leere und die Abstraktion standen jetzt am Beginn jeder Art von Bildung. Seine heutigen Dimensionen gewann dieser neue „Denkraum“, den die Scholastik vorbereitete, aber erst durch die Entdeckung der Null, zunächst als Schreibweise, die aus der arabischen Ziffernwelt übernommen wurde. Sie setzte sich durch,, weil sich so das kaufmännische Rechnen dramatisch vereinfachte. Das veränderte die Alltagspraxis und die Buchhaltung. Doch dazu kamen dann dramatische Auswirkungen im Feld der Theorie, denn Mathematik und Naturwissenschaft veränderten alles.

Die vollkommen abstrakte Algebra verdrängte die konkretere Geometrie und das Zahlenreich dehnte sich aus bis hin zu den imaginären Zahlen. Die Idee des Gottesreiches verschwand in einem vollkommen natürlichen  Raum, in dem das wachsende Wissen die vorausgehende Leere, die menschliche Unwissenheit nach und nach verdrängen sollte. Am Ende steht in diesem Weltbild das selbst erworbene, vollkommene Wissen. Aus diesem Ideal ging dann auch die Vision einer göttlichen Vernunft hervor, in der sich das menschliche Wesen – dank der Aufklärung“ – letztlich selbst „vergottete“ und anbetete.  Es entstand jener Zeitgeist, in dem sich die Neuzeit als „Moderne“ voll entfalten konnte.

All dies keimte auf in der ersten Jahrtausendwende, als unter den Ottonen die Idee der „renovatio imperii“ entstand, die Idee eines Weltreiches, das das Weltliche und das Geistliche zur Harmonie eines Gottesreiches verbindet. Neben diese Vision einer Erneuerung und Verbesserung des alten Römischen Reiches, die bis 1806 wirksam war, trat die Denkkultur der Scholastik, die Kunst des Lernens und Lehrens. In den Klöstern entfaltete sich eine Kultur, die die Bildung ins Zentrum stellte und aus der die Schicht der „Intelligenz“ hervorging. Jaques Le Goff widmete dieser Zeit sein Buch „Die Intellektuellen im Mittelalter (Stuttgart 1986)“.

Die via moderna und die via antiqua entzweite eine in sich versunkene Klosterwelt. Die „modernen“ Mönche verließen barfuß und bettelnd die Abteien mit ihren Landgütern und Reichtümern. Selbstständig denkende Mönche, die mit ihrer eigenen Vernunft nach göttlicher Wahrheit suchten, bildeten neue Orden, die sich in eben jenen Städte ansiedelten, die sich gerade erst herausbildeten. Als „Bettelmönche“ und „Barfüßler“ wurden sie zu Seelsorgern und Lehrern von Kauf­leuten und Bürgern, die sich eigene Rechte und Privilegien erkauften, um Marktplätze und Lagerhäuser in befestigten und geschützten Orten für ihre Geschäfte zu errichten. Mit der Stadtfreiheit begann in einer bäuerlichen Welt die Entwicklung eines gar nicht mehr bäuerlichen Bürgertums. Die Herrensitze verschmolzen mit den Bürgerburgen zu immer mächtigeren Zentren. Denn beides ergänzte sich. Die Fernhändler befriedigten die Luxusbedürfnisse des Adels und des Klerus und die Landesherren profitierten vom wachsenden Reichtum der Handelsstädte.

Die Stadtherren bauten sich mit der Unterstützung der reichen Bürger Kathedralen und an den Kathedralen bildeten sich Schulen. Gerbert d’Aurillac war der Lehrer der letzten beiden Ottonenkaiser.  Otto III. machte ihn zum Papst Sylvester II.. Gerbert disputierte 980 unter den Augen von Otto II.  in Ravenna  mit zahlreichen Gelehrten, darunter auch Ohtrich, Lehrer der Magdeburger Domschule, über die Einteilung der Philosophie und die Rolle von Physik und Mathematik.

Kaiser Otto II. soll die Disputation vorzeitig abgebrochen haben, damit der Magdeburger Domschullehrer sein Gesicht nicht ganz verlor gegenüber dem Universalgelehrten Gerbert (Asmus, S. 70). 997 verfertigte Gerbert in Magdeburg eine Sonnenuhr und beobachtete durch ein Sehrohr den Polarstern (Hertel/Hülse, Bd.1, S. 35). Er kannte die arabischen Ziffern und benutzte Abakus und Astrolabium. Nicht zufällig wurde er nach seinem Tod von vielen Klerikern als Magier verteufelt, denn der Fortschritt ist eine Schnecke! Doch dank der wachsenden Städte setzte sich das „moderne“ Denken immer weiter durch und die Universitäten lösten schon ab dem 13. Jahrhundert nach und nach die Domschulen ab. Die ersten Professoren der neuen Universitäten waren eben jene scholastischen Mönche, die seit den ersten Begegnungen von Christentum und Philosophie die menschliche Vernunft und den göttlichen Geist miteinander versöhnen wollten. Sie wurden die Lehrer der Laien, die spätestens ab 1600 die Professorenstühle übernahmen.

In der Zeit von 1300 bis 1600 rangen die Beharrungskräfte der alten Welt und Pioniere ,  die eine neue Zeit vorbereiten wollten, miteinander, doch Innungen, Gilden und Zünfte spielten ebenso wie die Städtebünde und die Hanse zugleich eine zutiefst „mittelalterliche“ Rolle. Sie waren zwar die Quelle, aus der sich der Strom der siegreichen Geldwirtschaft und der junge Bildungshunger speisten. Aber sie verteidigten vor allem anderen die ihnen verliehenen Privilegien und sie definierten sich als Teil eines durch und durch feudalen Systems, allerdings eines Systems, in dem das Lehnswesen längst seinen alten Sinn verloren hatte. Dienstpflichten waren Geld- und Zinszahlungen gewichen.

Dem Sieg der Geldwirtschaft entsprach die Entwicklung von Söldnerheeren, die man sich bei Bedarf für diesen oder jenen Zweck „kaufte“. Das Schicksal der mittelalterlichen Handelsstädte glich so in der Frühen Neuzeit letztendlich dem des „ruhmreichen“ Kampfes der alten Ritter um das Überleben ihrer Werte. So wie die hochmittelalterlichen Potentaten die Macht der Bojaren und Fürsten mit Hilfe des Dienstadels brachen, so errangen die neuen Territorialherren im frühen 17. Jahrhundert mit Hilfe des niederen Bürgertums und der hohen Bürokratie schließlich überall die Oberherrschaft über die Städte. Dazu musste ja nur die Macht der Patriziate und der Stadträte gebrochen werden. Das geschah durch den Druck von oben und von unten.

Der Bürgerbegriff erweiterte sich dabei auf all die, die eine Ortschaft bewohnten. Die Macht der Patriziate schwand und die Autorität der Territorialherren setzte sich im Absolutismus endgültig gegen jedes Autonomiestreben durch. Wie immer gibt es Ausnahmen: zu nennen wären insbesondere die Niederlande und die Schweiz, wo das bürgerliche Element eine größere Rolle spielte.

Das ändert aber nichts daran, dass das Autonomiebestreben der Städte bis dahin die „Willküren“ des Stadtrechts und die Freiheit der Bürger garantierte, eine  Freiheit, die eng verbunden war mit den „Gerechtigkeiten“ oder Gerechtsamen, die sich die einzelnen Bürgerschaften angeeignet hatten.

Ohne den Stadtbürger hätte es auch kein Ethos des Staatsbürgers gegeben, sondern nur den althergebrachten Untertanengeist. Denn erst im Schutz der städtischen Privilegien und Monopole konnte ein dritter Stand neben Adel und Klerus seine Kräfte sammeln.

Dieses Recht auf eigene Willkür und auf eine gesicherte Gerechtigkeit griff von den patrizischen  Familien, die in den Rat gewählt werden konnten, über auf die Gedanken all der Individuen, die in der „neuen Zeit“ für sich selbst als Personen Bürgerrechte einforderten, um ihr Weltbild auf Naturrechten und Naturgesetzen neu zu begründen. Und in diesen abstrakten Reich der individuellen Freiheit und der allgemeinen Volkssouveränität strebten die Staatsbürgerschaften „von Natur aus“ nach einer Weltordnung, die schon Nikolaus von Cues auf dem Konzil (De concordantia catholica) von Basel und Marsilius von Padua am Hof von Ludwig dem Bayern (defensor pacis) anstrebten. Dieses Streben richtete sich nauturbedingt gegen die Fürsten und ihren absolutistischen Machtanspruch.

Doch so entstand die Welt eines neuen Bürgertums. Konstitutiv für diese Welt war die Idee der Wahl der Oberen durch die Unteren. Das war die Wurzel der Vision von einer Volkssouveränität. Der Herrscher (egal ob Kaiser oder Papst) sollte wählbar sein und dem Recht, also dem Urteil der Gerichte und Konzile unterworfen werden. Unter dem Namen „Bürger“ verbarg sich jetzt – nicht zuletzt im Schutz der „Burgen“ des Kaufmannskapitals – das Doppelwesen von bourgeois und citoyen, das sowohl die wirtschaftliche als auch die politische Welt veränderte.

Aus einer „überhistorischen“ Perspektive ist die neuzeitliche Moderne also ganz eindeutig das legitime Kind des gewerbetreibenden Bürgertums der freien Städte des Mittelalters. Als städtisches Phänomen ist  der Geist des Bürgertums aber zugleich ein Antagonist der Beharrungskräfte des „bäuerlichen“ Landes, und das Kapital wurde zum Hauptfeind jener „Grundeigentümer“, die von der Bodenrente, nicht aber von ihrer „Leistung“  leben wollten. Von dem Weltbild der Arbeiter, von den Antagonisten des Kapitals, war damals noch nichts zu spüren, aber der Weg vom Stadtbürger führte über den Staatsbürger und die Fabrikkultur zum „Werktätigen“ als einer bezahlten Arbeitskraft, also zur Verwandlung der Bürger in Arbeiter, die einerseits Erwerbstätige, andererseits Staatsangehörige sind.

Der Bericht über Heine Alemann endet so mit einer recht groben Skizze weltgeschichtlicher Perspektiven, in die ich sein Leben einordnen will. Die Geschichte seiner Zeit, die damalige Zeitgeschichte soll im Bericht über  Heinrich Alemann weitererzählt werden, denn das Leben der beiden kann nur zusammen beschrieben werden.

Quellenverweise

Urkunden:
Die Chroniken der niedersächsischen Städte – Magdeburg, erster Band, Stuttgart 1962, (Schöffenchronik) S. 384;

Stadtgeschichtsschreibung:
Hertel/Hülße, Friedrich Wilhelm Hoffmanns Geschichte der Stadt Magdeburg – neu bearbeitet, Magdeburg 1885, (Hoffmann);
F.A. Wolter, Geschichte der Stadt Magdeburg, Magdeburg 1901, S. 67f;
Helmut Asmus, 1200 Jahre Magdeburg, Magdeburg 2000, S. 374-385;

Genealogie:
ZMA. SH 3: Familienverband Ziering-Moritz-Alemann, Heft Nr. 3, Berlin, Januar 1938 (im Internet unter www.z-m-a.de)):
Eberhard von Alemann, Geschichte des Geschlechts von Alemann, Magdeburg 1909);