Ludwig Alemann (1468-1543)
Ludwig Alemann war der Sohn des Mannes, auf den die von Alemann’sche Stiftung zurückgeht. Als Luther 1517 seine Thesen in Wittenberg anschlug, war er Bürgermeister. Als der Reformator 1524 in Magdeburg predigte, stand er in der zweiten Reihe und war – so behauptet die von uns benutzte Genealogie – Schultheiß.
Inhaltsübersicht
Ludwigs Leben in der Vorzeit der Reformation
Kopernikus, Luther, die Päpste und der „Status“ der Erde
– Zwischenbemerkungen
Der Kampf gegen den Ablass als Auslöser der Reformation
Johann Fritzhans und die Reformation in Magdeburg
Ludwig und die ersten 20 Jahre der Reformationszeit
Tabelle: Bürgermeister in Ludwig Alemanns Amtszeit
Quellenangaben
Ludwigs Leben in der Vorzeit der Reformation
Heinrich Alemann (1425-1506) und Katharina Keller waren Ludwig Alemanns Eltern. Er trat in die Fußstapfen des Vaters. 1499 wurde er Ratsherr. 1505 löste er diesen als Bürgermeister ab. Sein Cousin Hans Alemann – seit 1498 Nachfolger seines Vaters Heine – schied 1507 als Bürgermeister aus dem Oberalten Rat aus. Im Bürgermeistersextett der drei Räte war Ludwig danach der einzige Alemann. Ob Ludwig 1522 Schultheiß wurde (ZMA, H3 S.184, EvA S.89), lässt sich anhand der von Hertel veröffentlichten Liste nicht bestätigen, doch diese Liste ist unvollständig.
Über sein Leben ist uns wenig bekannt. Er lebte im Haus „Zum Goldenen Tempel“ (Breiter Weg 58), schräg gegenüber dem Haus „Zum Lindwurm„, einem alten Kaufmannshaus, das als eines der wenigen Häuser des 15. Jahrhunderts am Breiten Weg erhalten blieb, bis man es in den 1920er Jahren in ein Kino verwandelte. Der „Lindwurm“ war ein solide gebautes, großzügig angelegtes Haus, das über Jahrhunderte vielen Zwecken diente. Das Haus „Zum goldenen Tempel“ fiel 1631 dem Stadtbrand zum Opfer und wurde – wie viele „wüste Stätten“ der Altstadt – vom Bürgermeister Lentke übernommen und neu aufgebaut. Ansonsten ist über das Haus nichts Bedeutendes zu berichten.
Der einzige Sohn von Ludwig, ebenfalls Ludwig Alemann (vor 1500-1575), wurde wie sein Vater Ratsherr und ab 1552 Schultheiß. Dessen Sohn – wiederum ein Ludwig (nach 1500- vor 1575) – starb in Lübeck, wo er ein Großgeschäft anlegen wollte (EvA, S. 110, ZMA. SH 3, S. 184, die genauen Lebensdaten sind unbekannt).
Neben dem Haus „zum Lindwurm“ auf der anderen Seite der Brüderstraße (später Große Schulstraße) lag das Franziskanerkloster, in dem im Verlauf der Reformation die Stadtschule eingerichtet wurde. 1456 verweigerten sich die Mönche dieses Kloster der Klosterreform des Erzbischofs. 1523 versuchte der Abt die reformatorischen Bestrebungen von einigen seiner Mönche zu unterdrücken.
Kopernikus, Luther, die Päpste und der „Status“ der Erde
Das junge 16. Jahrhundert ging mit vielen neuen Ideen schwanger. Das Buch des Kopernikus über die Kreisbewegungen der Himmelskörper (de revolutionibus orbium coelestium) erschien erst 1543 als Ludwig starb. Seine Idee hatte Kopernikus aber schon vor Jahrzehnten niedergeschrieben. Er behauptete mit Hilfe von Mathematik und Geometrie, dass die Erde nicht im Zentrum der Schöpfung steht, dass sie vielmehr nur einer der Planeten ist, die um die Sonne ihre Kreisbahn ziehen. Diese Vorstellung störte die Ruhe und Beständigkeit einer Menschenwelt, die Zentrum und Sinn der göttlichen Schöpfung sein wollte.
Kopernikus ahnte, dass diese „Ruhestörung“ Unruhe herrufen würde, und verzögerte die Veröffentlichung seiner Ideen. Bis sein Werk endlich in den Druck gegeben werden konnte, ruhte es „viermal neun Jahre“ in der Kammer des Autors, wie Kopernikus in einer Widmung an Papst Paul III anmerkte. Das Werk entstand also schon um 1507, in dem Jahr, als Ludwig Alemann das Bürgermeisteramt antrat.
Der Kopernikusschüler Joachim Rhetikus überredete seinen Lehrer, das Buch über die Kreisbewegungen der kosmischen Körper zu veröffentlichen und er gewann einen Drucker in Nürnberg. Die Aufsicht über die Herstellung übergab er Andreas Osiander, da er selbst an die Universität von Wittenberg berufen wurde.
Osiander war Protestant und Prediger an der Nürnberger Lorenzkirche. Er war ein sehr gebildeter Mann, überzeugt davon, dass nur Gott die Wahrheit kennt, dass folglich alles Menschenwerk hypothetisch bleibt. Nicht nur Luther und Melanchthon zu Liebe, die beide die neue Sicht des Universums ablehnten, auch aus eigener Überzeugung gab Osiander dem Werk ein anonymes Vorwort, das dessen Inhalt hypothetisch nannte. Hierzu strich er die Vorbemerkung des Kopernikus und ließ vom Original nur noch den Widmungstext für den Papst, den Kopernikus dem Werk vorangestellt hatte. Der Autor konnte hieran nichts ändern, denn er war schwer erkrankt und starb im gleichen Jahr (1543). Hans Blumenberg beschrieb diese Ereignisse detailliert im Kapitel „Folgen einer wohlmeinenden Irreführung“ in seinem Buch „Genesis der kopernikanischen Welt“ (Teil 3.II:).
Zur 1. Zwischenbemerkung:
Über die „Revolutionen“ von Himmel und Erde
Kopernikus behielt die Grundmechanismen des alten Modells bei. Neu war sein Vertrauen in eigene Messungen und Beobachtungen – und vor allem: in die Geometrie. Er versuchte es mit einem Perspektivenwechsel. Denn die Geometrie legte ihm nahe, den Körper im Zentrum des Systems auszutauschen. Das geozentrische Weltbild wurde heliozentrisch.
Daraus folgt unvermeidlich dies: Rein mathematische Gründe verdrängten die Erde aus dem Zentrum des Universums. Es handelte sich um eine Korrektur, die dem alten System wieder Halt und Lebenskraft verleihen sollte. Neu war dabei der Mut, der Meinung der Kirche zu widersprechen. Aber das taten damals auf vielen Gebieten viele. Viel wichtiger war daher das, was Osiander in diesem „neuen“ Denken „ausstreichen“ wollte.
Zur 2. Zwischenbemerkung:
Über die alte und die neue Wahrheit
Scharf zugespitzt besteht der Unterschied zwischen Kopernikus und Luther also darin, das Luther „seine Sach“ ganz auf Gott gestellt hat, auf ein Wesen, von dem der Mensch sich kein Bild machen kann und darf, während Kopernikus seinen Glauben ganz auf dem Wissen um die Eigenlogik und die Erfahrbarkeit der Gegenstandswelt gründete, also ganz sich selbst und seinem Verstand vertraute.
Luther negierte in sich das Menschlich-Teuflische, das „Nichts“; seine eigene Vernunft ist abhängig von dem, was das Evangelium verkündet und davon, wie er diese Verkündigungen versteht. Kopernikus machte „alles“ Gegenständliche, also das All (ohne Gott) zu seinem Gegenstand, er vertraute seinem eigene „Geist“, also dem Göttlichen im Menschen, er vertraute einer Vernunft, die alles in sich aufnimmt und prüft, was sie in Erfahrung bringen kann und will. Er wollte Irrtum und Nicht-Wissen negieren und mit dem Wissen um das Notwendige das Mögliche in sich selbst erreichen und das Begriffene beherrschen, er wollte die Vernunft in sich und seinen Mitmenschen stärken dadurch, dass all die Notwendigkeiten, deren Erklärung möglich ist, auch erkannt werden.
Zur 3. Zwischenbemerkung:
Luther und die Vernunft (Textauszüge, Zitate)
Im Gegeneinander von Luther und Kopernikus überlebt der Gegensatz des „credo, ut intellegam“ und des „intellego, ut credam“.
„Neque enim quaero intelligere ut credam, sed credo ut intelligam.“
„Denn ich suche nicht zu verstehen, um zu glauben, sondern ich glaube, um zu erkennen.“
(Amseln von Canterbury, Proslogion (1078))
Entweder: „ich glaube, damit ich erkennen kann“ oder: „ich erkenne, damit ich glauben kann“. Der erste Grundsatz, das „credo“, ist das Einfachere, der zweite, das „intellego“, ist das Schwierigere.
Das Erste, der (Begriffs)Realismus, erfordert keine Anstrengung in Fragen der Begründung, dafür aber viel Energie in Fragen der Durchsetzung und Verteidigung. Der Realist ist von Natur aus ein konformistisch-konservativer Geist. Sein Beruf ist der des Dogmatikers.
Umgekehrt ist es beim skeptisch-neugierigen Nominalismus, dem gegensätzlichen Prinzip. Dem konservativen Geist, von dem der Nominalist sich abstößt, tritt ein nonkonform-progressiver Geist entgegen. Sein Beruf ist der des textkritischen Theologen.
Das Gottes- und Weltbild, dem man sich positiv oder negativ verpflichtet, wirkt wie eine Brille, die Sachverhalte schärfer in den Blick nimmt und erhellt oder aber verschwimmen lässt und verdunkelt. Man kann sich dieser Brille und ihrer Wirkungen bewusst sein oder aber das, was die Brille zeigt, als reine Wirklichkeit „annehmen“. Diese Voreinstellungen des ganz persönlichen „Denkapparates“ betreffen auch jene Gedanken, die sich auf die Brille selbst beziehen, also auf das Bild von Gott und der Welt, durch das man seine Umwelt wahrnimmt, das aus einer subjektiven Perspektive wie alles „Äußere“ ja auch als „Ding“, also objektiv betrachtet werden kann. Man spricht dann von einem Ding, dessen Name „Idee“ ist und dessen Heinat „Vernunft“ heißt. Und so ein „Ding“ ist im Kontext religiöser Fragen ganz offensichtlich die „Heilige Schrift“.
Entweder man liest diese Schrift durch den Filter seines Gottesbildes unmittelbar als Gottes Wort, das den, der es nicht glaubt, sofort der Verdammnis preisgibt, oder man versucht, Gott in seiner Verborgenheit so zu erkennen, wie er „an und für sich“ sein müsste, wie er sich „in den Dingen“, hier also: in der Schrift, zeigt. Für den einen sind die Worte einfach nur das, was die Dinge sind, für den anderen sind die Worte abstrakte Dinge, durch die die konkreten Dinge, hier also Gott selbst, zu uns sprechen. Das Zweite ist Luthers Ansatz, er ist im Kern nominalistisch.
Doch – angesichts des Gegenstandes, auf den sich dieser „Nominalismus“ bezieht – scheint diese Denkweise uns Heutigen wiederum wenig vernünftig und – und trotz Antidogmatismus und Textkritik – allzu realistisch zu sein. Denn wie soll man ein göttliches Wesen, das es vielleicht gar nicht gibt, durch Schriftzeichen, die rein menschlicher Natur sind, zu sich sprechen lassen? Darauf gab es keine vernünftige Antwort, das wusste Luther. Daher beharrt er so verbissen darauf, dass der Glaube immer am Anfang und über allem steht, denn die Existenz Gottes darf aus seiner Sicht niemals infrage gestellt werden. Im Resultat wird so aber das Göttliche zur (absolut) wahren, und das Menschliche zur („bloß“) wirklichen Vernunft.: zur „Erzhure des Teufels“, wenn der Glaube an die göttliche Vernunft und die Verachtung der „Wirklichkeit“, des („sinnlosen“) Existierens fehlt.
Man muss gegen Luthers Gottes- und Bibelvertrauen wohl zugestehen, dass die weltliche „Rationalität“ in vielen Dingen klarer und verlässlicher von katholischen Theologen verteidigt wurde. Die religiöse „Sinnlichkeit“, der echt und ernst empfundene Glaube war aber deutlicher und energischer auf der Seite der Protestanten (und der „Häretiker“) zu finden. Dennoch verbindet alle theologischen Fraktionen die Skepsis gegenüber dem, was sich als Erbe der via moderna der Scholastik in der Neuzeit als Wahrheit der aufkeimenden Wissenschaften durchzusetzen begann: die Entthronung der Theologie durch die Philosophie und den Antropozentrismus.
Hans Blumenberg berichtet, dass Osiander auch den Titel des von ihm betreuten Werkes änderte, indem er das Wort mundi (Welt) mit coelisti (Himmel) ersetzte. Er tat dies, um in der Astronomie die direkte Assoziation mit dem Erdenleben zu verhindern. Weltkörper wurden so zu Himmelskörpern. Osiander wollte die Gedanken des Kopernikus nur im Kontext des alten, theozentrischen Wahrheitsbegriffs gelten lassen. Nur das Absolute selbst wisse, was wirklich wahr sei. Osiander wollte am alten Lehrsatz „Ohne Gott ist der Mensch nichts“ festhalten und das anthropozentrische Weltbild, das seine Wahrheiten in der Erfahrung sucht, zumindest relativieren. Es gab also eine gemeinsame Abwehr gegenüber dem neuen Wahrheitsbegriff der werdenden Wissenschaften. Von daher ist es wohl wenig erstaunlich, wenn es eine große Nähe zwischen den Theologen der katholischen Reform und den protestantischen Reformatoren gab, wodurch sich Luther in seiner Disputation mit Johannes Eck 1519 angesichts der rationalen Kälte seines Gegenübers so sehr erhitzte, dass er sich zu unvorsichtigen Aussagen verleiten ließ. Denn beide Konfessionen gehen davon aus, dass absolute Wahrheit den Menschen offenbart, also „geschenkt“ werden muss durch das, was Luther Gottes Gnade nannte. Luther negierte nur den scholastischen Versuch, Gott als Vernunftwesen mit der menschlichen Vernunft begreifen zu wollen. Er wollte aufhören, menschliche Eigenschaften auf das göttliche Wesen zu projizieren. Insofern war er als Realist, als Wortgläubiger auch Nominalist“, also Worthinterfrager. Er hielt sich an den Konzeptualismus eines William von Ockam, der sich im Argumentieren radikal auf das Wesentliche und unvermeidlich Notwendige beschränken wollte. Das Allgemeine, also Gott sei ein „conceptus mentis“,ein mentales Konzept, in dem sich die Bezeichnungen des vielgestaltigen Einzelnen zu einer gemeinsamen Vorstellung zusammenfassen („significans univoce plura singularia“). Man sieht, dass sich hier – wie bei Kopernikus – alt und neu zusammenfügen und ganz untrennbar zu einem ganz besonderen „Temperament“ vermischen.
Neu war auch bei Kopernikus der Versuch, Wissen und Wirklichkeit unmittelbar im eigenen Geist zu verbinden ohne Rückkopplung mit den Vorgaben von Theologen, Dogmatikern, Rhetorikern und Logikern. Dies verband Kopernikus und Luther. Denn beide wollten sich vom Baukasten der „Sieben Künste“ lösen. Man wollte den eigene Geist und die eigenen Kräfte möglichst frei entfalten und sucht neue Raster, in denen man sein Wissen und seine Glaubensgewissheiten speichern und weiterentfalten konnte. Bei Kopernikus war es die Mathematik, insbesondere die Geometrie und bei Luther die Textlektüre und -exegese.
Man löste sich aus dem Kontext einer Wahrheit, in der sich das Heilige als Autorität von oben her dem Unheiligen, den Untertanen offenbarte, man löste sich aus der Aura der „Autorität“ des „Apriorischen“, des abstrakt Absoluten, das man sich nur ausmalen konnte, das sich nur in der reinen Vorstellung, im Glauben als „Wissen“ konkretisieren durfte. Mit dem Bewusstsein von dieser Differenz zwischen wissendem Glauben und glaubendem Wissen, das sowohl Sokrates als auch Nikolaus von Kues ins Zentrum ihres Denkens stellten, und mit der Entscheidung, diese „Kluft“ zwischen Wissen und Glauben durch eigene Entscheidungen – so weit wie menschenmöglich und mit Argumenten begründbar – zu schließen, beginnt aus meiner Sicht die Neuzeit im engeren Sinne. Ihr Zeitbewusstsein navigiert seither in dieser selbst „angemaßten“ Freiheit „haltlos“ zwischen Neugier und Hochmut. So stellt sich die Menschenwelt dar durch die Brille von Luthers Theologie.
So wie die moderne Physik aus der Negation der aristotelischen Theorie vom „ersten Beweger“ hervorging, um sich ins Chaos der sich selbst bewegenden und organisierenden Körper einzuordnen, so entstand die Neuzeit aus der Ablösung von der Autorität der Weltkirche und von der Idee der unmittelbar wirksamen göttlichen Allmacht. Es ging den Humanisten und den jungen Wissenschaften der Frühen Neuzeit immer weniger um die Konkretion des Absoluten und immer mehr um das absolut Konkrete, um eine praktisch anwendbare Lehre, um eine logisch und empirisch im Hier und Jetzt nachvollziehbare Wahrheit, die sich nur auf eigene Erfahrungen und Schlussfolgerungen stützt, vor allem aber auf Messungen und Beobachtungen.
Zur 4. Zwischenbemerkung:
Über das alte und das neue Weltbild
Die große Umwälzung, die sich in Luther und Kopernikus auf unterschiedliche Art anbahnte, wurde im 16. Jahrhundert zunächst nur spürbar als eine Verunsicherung und als eine Unruhe, die ohne Gewalt nicht mehr zu verdrängen war. Die Anthropozentrik verwirklichte sich dabei im Kontext der alten Weltbilder zunächst ohne theoretischen „Überbau“, sie entfaltete sich im „Individualismus“, mit dem sich „der Mensch“ und „das Seine“ ins Zentrum seines Weltbildes stellte. In der Politik zeigte sich das im Absolutismus, in der Kunst zeigte es sich im Barock und in Kulturell-Geistigen wirkte es in Alchemie, Astronomie, Magie und Hermetik.
All diese neuen Tendenzen waren in der Lutherzeit schon zu spüren. Sie entfaltetem ihre Kraft nicht zuletzt in der Gründung von Universitäten, die nicht mehr dem Papst, sondern den weltlichen Mächten unterstanden und dem Zugriff der Kirche entzogen waren. So benötigte die älteste deutsche Universität in Heidelberg 1386 noch die päpstliche Genehmigung, während die Wittenberger Universität 1502 mit der des Kaisers auskam. Es ging um die gelebte Gegenwart in einer gottgegebenen Welt, die sich von der Bindung an überirdische Autoritäten löste. Der Papst verlor die weltliche Macht und die Kaiser übernahmen die Rolle der höchsten Autorität im Weltreich der Menschen. Das „Imperium“ stellte sich als planetare Herrschaft der Menschheit über das „Dominium“, über das Gottesgeschenk eines begrenzten Zeit- und Lebensraumes. Der Teilhaber und Verwalter von Gottesgaben (dominium) wurde zum Herrscher und Schöpfer seiner Welt (imperium). Es ging also immer mehr um den wirklichen Menschen und die wirklichen Dinge, vor allem aber um die eigenen Gefühle, Sinne und Gedanken, kurz: es ging letztlich in allem, was wichtig und wesentlich war, nur um „den Menschen“ und die Welt, die ihm als Gegenwart eine Existenz gab.
Zur 4.1. Zwischenbemerkung:
Wahrheitssuche auf der Epochenschwelle
Die Klosterleitungen spürten nach 1517 überall Auswirkungen von Luthers Schriften. Immer mehr Kleriker, die um Glaubenswahrheit und seelsorgerliche Aufrichtigkeit rangen, verließen ihre Konvente. 1523 begann eine regelrechte Flucht aus der Enge der Abteien. 1529 fand man bei den Franziskanern am Breiten Weg in Magdeburg gerade noch fünf Brüder. Auch die Augustiner und die Hieronymiten wandten sich der lutherschen Reform zu.
32 Jahre zuvor, 1497, im Jahr der „magna concordia“, besuchte Martin Luther die zehn Jahre zuvor gegründete Schule der „Brüder vom gemeinsamen Leben“ in Magdeburg. Der Unterricht der kleinen Gemeinschaft der Hieronymiten entsprach nicht den Erwartungen des 14-jährigen und er setzte seine Ausbildung in Erfurt fort. 1505 – er begann als Magister Artium gerade das vom Vater gewünschte Jurastudium – hätte ihn fast ein Blitz erschlagen und – noch einmal mit dem Leben davon gekommen – ging der spätere Reformator zu den Augustinern ins Kloster. Dort setzte er seine Laufbahn auf einem anderen Gebiet fort.
1507 zum Priester geweiht, übernahm er 25-jährig die Lektur für Moralphilosophie an der Wittenberger Universität und hielt Vorlesungen über die Ethik des Aristoteles. Parallel dazu stürzte der junge Priester sich ins Theologiestudium. 1512 erhielt er die Bibelprofessur. 1514 findet man den Subprior und Leiter des Generalstudiums fast täglich als Prediger in der Kloster- und Stadtkirche. 1515 unterstehen ihm als Distriktdiakon 15 Klöster, darunter die Magdeburger Augustiner.
Luther betonte in seinem akademischen Unterricht – neben der bisher vorherrschenden scholastischen Philosophie und Logik – das Bibelstudium. Ihm genügte nicht mehr, was in den „Artistenfakultäten“ gepaukt und auswendig gelernt wurde. Das fest gefügte Gebäude der sieben Künste (Grammatik, Rhetorik, Dialektik als Trivium; Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Musik als Quadrivium) war ihm zu eng geworden. Die heiligen Schriften sollten unvermittelt wirken, sie sollten im Original gelesen und besprochen werden. Hier verband sich der Humanismus des Philipp Melanchthon mit dem theologischen Reformwillen Luthers, was besonders deutlich wurde in der Einbindung griechischer und hebräischer Originaltexte in den Bibelunterricht. Es gelang, Studenten für diese Art der Bibellektüre zu begeistern. Denn der junge Professor verband ein großes Wissen mit tiefer Religiosität. Dass Luther dennoch kein Eiferer und Gegner der alten Bildung war, zeigt die Intensität der Zusammenarbeit mit dem Humanisten Melanchthon, der ihm den Zugang zum griechischen Bibeltext eröffnete, nachdem er 1518 – im Alter von 21 Jahren – auf Vorschlag von Johannes Reuchlin die Wittenberger Professur für Griechisch übertragen bekam, wo Melanchthon mit Unterstützung Luthers sofort auf eine Reform des Universitätsunterrichts drang.
Dass all dies möglich und erfolgreich war, zeigt: die Zeit war reif für Neuerungen. Es war wohl eher ein Zufall, dass der Wunsch eines gelehrten Mönchs, eines Professors und Predigers aus Wittenberg, der eine akademische Disputation über Ablasspraktiken anstoßen wollte, in wenigen Jahren Welt und Kirche von Grund auf veränderte. Das geschah, weil Luther ein Kämpfer und ein großer „Arbeiter“ im Feld der theologischen Wissenschaften war, es geschah, weil ein einzelner Mensch stur blieb und seine allgemeine Überzeugungen, die in einigen wichtigen Punkten von der herrschenden Meinung abwichen, ehrlich, offen, oft überdeutlich und polemisch, manchmal gemein und verletzend aussprach. Und das entfaltete eine große Wirkung, weil Luther seinen Weg unbeirrt weiter ging, einen Weg, der auch ihn veränderte.
Zur 5. Zwischenbemerkung:
Weg vom Absoluten, hin zum Konkreten
Zur 6. Zwischenbemerkung:
Das Gottesbild und die ewig unbeantwortbaren Fragen
Das, was in ihm zum Ausdruck kam, war einer der Grundkonflikte seiner Zeit und seiner Mitmenschen. Er kämpfte in sich mit der unbedingten Pflicht des unbedingten Gehorsams gegenüber den Gesetzen und Geboten Gottes, wie sie ihm sein Mönchsstand und die Kirche auferlegt hatten. Und er verlieh seiner Empörung Ausdruck über das verweltlichte und verwilderte Bild, das seine Kirche und der Klerus mit dem Papst an der Spitze in der Öffentlichkeit zeigten. Die Gegensätze zwischen der stolz zelebrierten Würde eines weltlichen Fürstentums bei den Bischöfen und Päpsten und der stillen Innerlichkeit des Lebens als Mönch und Glaubenslehrer in seiner Zelle, auf der Kirchenkanzel und in den Universitätsseminaren konnte seine „Seele“ nicht mehr zusammenhalten. Der verweltlichten Kirche stellte er daher eine immer strengere Gläubigkeit, eine innerliche und ganz persönliche Überzeugungskraft gegenüber. Im Zentrum seiner Predigten standen daher a) der Glaube an Gottes Gerechtigkeit und b) der Irrglaube an die seligmachende Wirkung der guten Werke.
Zur 6.1. Zwischenbemerkung:
Luther und Kant: der Mut, zu denken, und der Mut, zu glauben
Zur 7. Zwischenbemerkung:
Luthers Gott und der Kampf gegen die Teufel
Doch Luthers „innerer“ Kampf war im Strom des Zeitgeistes der damaligen Zeit kein „individuelles“ Phänomen, er wurde dank seiner Schriften und dank seines Wirkens zum Katalysator jener psychischen Energie, in der sich eine „neue Zeit“ ihr Bett grub und ihren Weg bahnte. Im Kampf um die richtige Interpretation des Absoluten, insbesondere um die Lesart der „Quellen“ und im Ringen mit der eigenen Beziehung zur Körperlichkeit, in der Suche nach dem absolut Wahren und im Widerstand gegen den allzu konkreten Drang zur Sünde suchte die neue Konfession in schmerzhaften Ideologie- und Religionskriegen nach dem, was ihr letzten Endes Ruhe geben sollte.
Und doch gibt es einen Unterschied zwischen dem reformatorischen Impuls in den ersten Reformatoren und den reformatorischen Bestrebungen der Zeitgenossen, die durch die Reformation in Bewegung versetzt wurden. Denn letztlich bekämpfte man „teuflische“ Gefahren im eigenen Inneren – dafür sorgte der „Massenverstand“ – am liebsten nicht in sich selbst, sondern in der Gestalt des Anderen. Das betraf auch das Wirken der Reformatoren selbst, die ja dank ihres Erfolges und durch die Gewalt der Umstände zu Kirchengründern und Gesetzgebern wurden. Die Scheiterhaufen überlebten die Reformation und es könnten „im Namen Gottes“ in dem folgenden Jahrhundert mehr Hexen durch weltliche Gerichte verbrannt worden sein als Ketzer durch die kirchliche Inquisition in den Jahrhunderten zuvor!
Der kollektive Ankerpunkt aller Konfessionen war und blieb der „innere Mensch“. Dieser Mensch bildete in seiner „Masse“ die Gemeinde der Gläubigen, deren kollektive Organisationsform aber nicht mehr „Pfründe“ sein durfte, die sich vielmehr mehr oder weniger selbst verwaltete, die aber dennoch (oder gerade deswegen) allzu oft dazu neigte, sich als eine Auslese, als „auserwählt“ zu betrachten. Nicht selten machte man aus seinem Glauben einen göttlichen Auftrag und begann, die „Ungläubigen“ zu verachten und zu bekämpfen, wo man sie nicht bekehren und zu sich „emporheben“ konnte.
Gerade im Magdeburg der späten Reformationszeit findet man viele um „Wahrheit“ und „Echtheit“ ringende, einander bekämpfende „Glaubensvagabunden“, viele „echte“ Lutheraner, die von einem Ort zum anderen jagten und gejagt wurden. Die Konsolidierung der neuen Konfession war geprägt von endlosen und leidenschaftlichen Streitereien, Eifersüchteleien und unendlich vielen Varianten von Zuwendung und Abstoßung in allen nur denkbaren Umständen und Angelegenheiten.
In der Bürgerseele entsprach der harten „Physik “ im äußeren Weltverhalten nicht selten im Inneren, im individuellen Seelenlebens eine extrem „weiche“ Metaphysik. So hat am 22.9.1592 eine Magdeburger Bürgermeistersgattin, die nachts an Druckschmerzen auf der Brust und an Alpträumen litt, durch ihre Klage die Verbrennung einer „alten Zauberin“ mitveranlasst, eine gerichtlich angeordnete Aktion, bei noch der vier weitere Frauen als Hexen verbrannt wurden. (Asmus, S. 514f.) Die Bürgermeistergattin könnte zur Familie meiner Vorfahren gehört haben, ganz sicher aber zur engen Verwandtschaft.
Im Kommentar zu einer Ausstellung zu diesem Thema liest man dies:
„Der Reformator sei schon als Kind abergläubisch gewesen, das habe er von Zuhause mitbekommen. Seine Meinung über Zauberei und Hexerei pendelte zwischen Gnade und Folter und Scheiterhaufen: ‚Diese Ambivalenz lässt sich theologisch nicht erklären.‘
… Luther sei Choleriker gewesen, litt an Koliken und Nierensteinen: ‚In eben solchen Phasen konnte es für ihn gar nicht genug Folterknechte und Scheiterhaufen geben, weil er für seine Leiden hexerischen Schadenszauber verantwortlich machte.‘ Ging es ihm gut, war er milder gestimmt und plädierte für Mission und Gnade.“
(Kommentar zu einer Sonderschau im Kriminalmuseum Rothenburg)
Insgesamt wurden „Hexen“ und „Zauberer“ vermehrt Opfer einer „christlich“ inspirierten Gerichtsbarkeit, die dem Teufel in den Menschenseelen den Garaus machen wollte. Doch es könnte falsch sein, das allein auf die Reformation und den Aberglauben der Reformatoren zurückzuführen. Ein wesentliches Element war ganz sicher die allgemeine Tendenz zur Säkularisierung und Entsakralisierung, die sich gerade auch darin äußerte, dass weltliche Gerichte die Scheiterhaufen gegen Zauberei und Hexerei errichten ließen. Die kirchliche Inquisition stand dem eher ablehnend, oder doch zurückhaltend gegenüber. Ihr genügte der Exorzismus.
Es gab einen Preis für die neue „Freiheit“ der Menschen, im Wachstum ihres Wissens auch ihre Macht über die gottgegebene Natur auszubauen. Diesen Preis thematisierten Theologie und Philosophie von Luther bis hin zu Heidegger in ihrer Polemik gegen Technik und Wissenschaft, gegen das Denken „überaufgeklärter“ Techniker und Welterklärer. Das so erfolgreiche und weltverändernde, aber auch immer wieder vergebliche Anrennen des „Geistes“ gegen die „natürlichen“ Grenzen der Körperwelt machte die „Seelen“ der Menschen immer wieder aufmerkam auf die „Unzulänglichkeit“ des „Mängelwesens“ MENSCH, dem die Technik nicht Rettung aus dem Chaos der Natürlichkeit, sondern bestenfalls Waffe gegen die Gewalt und Übermacht der göttlichen Natur sein könne. Heidegger nannte das Technische daher einfach nur „Gestell“ und Oswald Spengler nannte die Technik eine Taktik des Überlebens. Mitten hindurch durch diese innere Zerrissenheit zwischen absoluten Optimismus und absoluten Pessimismus führt der Pfad des Fortschritts und der Neuzeit.
Diese Zerrissenheit kann böse Folgen haben, die die möglichen Fortschritte in ihr Gegenteil verwandelt: Denn der Körperhass bekämpfte in der neuen Konfession ja nicht mehr den Geist und seine „Irrtümer“, man bekämpfte im Namen der „Wahrheit“ den vom Teufel besessenen Leib und in ihm die Sünde mit ihren magischen „Künsten“ – also die „das Erdreich durchwühlenden“ neuen Leidenschaften und Energien. in denen – im Kampf mit den alten Mächten – die neuen Wissenschaften ihre Jugendkräfte erprobten als Astrologie, Alchemie und Magie. Der Corpus Hermeticum leistete seinerzeit das, was heute für viele Lehrbücher und Ratgeberliteratur tun. Sie dienten als Quelle der Hermetik und der Geheimbündlerei.
Wer sich mit der Reformation befasst, sollte daher immer diese Mischung und dieses Ineinanderfließen von Wissenschaft und Religion im Auge haben. Nicht nur damals, auch heute ist es schwer, sich in diesem Gestrüpp von ineinander verschmolzenen Gegensätzen mit klarem Verstand und sicheren moralischen Instinkten einen Weg zu bahnen, der einer „gesunden“ Orientierung folgt.
Der Kampf gegen den Ablass als Auslöser der Reformation
Eine Entscheidung in Rom gab 1517 den Anstoß zur protestantischen Reformation. Das Stadtbild, das im Vergleich mit den prachtvollen italienischen Stadtstaaten wenig spektakulär war, sollte endlich die Autorität und den Machtanspruch der Päpste widerspiegeln. Dazu gehörte insbesondere der Neubau des Petersdoms. Schon 1452 ordnete Nikolaus V. den Abriss der alten Peterskirche an. 1506 startete Julius II. den Dombau unter der Leitung von Donato Bramante, 1514 beauftragte Leo X. Raffael Santi (1483-1520) und 1547 übernahm Michelangelo Buonarroti (1475-1564) die Bauleitung, um nur die bekanntesten Baumeister zu nennen.
Die Stadterneuerung und der Dombau waren teuer. Zum Einsammeln der benötigten Gelder schickte Leo X. seine Ablassprediger in die Welt, auch nach Deutschland. Der Papst, ein Medici, Mitglied einer der bedeutendsten Bankiersfamilien Italiens, hoffte, das Ergebnis in Deutschland zu verbessern, indem er sich den Ertrag mit dem ehrgeizigen Magdeburger Erzbischof Albrecht von Brandenburg (1490-1545) je zur Hälfte teilte.
Der dreiundzwanzigjährige Brandenburger hatte – gegen alle Regeln – gerade das Erzbistum Mainz zum Magdeburger und Halberstädter Episkopat hinzugekauft. Die Augsburger Fugger, die Albrecht die Mittel zum Kauf der Mainzer Kurwürde geliehen hatten, übernahmen im päpstlichen Auftrag – gegen eine gute Eigenbeteiligung – die Abwicklung des Ablasses in den nördlichen Ländern Europas und die Hälfte der Einnahmen in Mainz, Magdeburg und Halberstadt diente der Ablösung von Albrechts Schulden. Sein Interesse an einem guten Ertrag war daher immens und die Ablasskampagne wurde „professionell“ betrieben, „Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt“, dieser Satz ist bis heute sprichwörtlich. Das dreiste Marketing erregte Luthers Zorn. Am 31. Oktober 1517 veröffentlichte er seine folgenreichen Thesen.
Hier ein Auszug aus der „Disputation zur Erläuterung der Kraft des Ablasses“:
„21. Deshalb irren alle Ablassprediger, die sagen, durch den Ablass des Papstes werde der Mensch frei von aller Strafe und selig. …
24. Unvermeidlich wird deshalb der größte Teil des Volkes betrogen durch jenes in Bausch und Bogen gegebene, prahlerische Versprechen des Strafnachlasses. …
36. Jeder Christ, der wahre Reue empfindet, hat vollkommenen Nachlass von Strafe und Schuld, auch ohne Ablassbriefe.
37. Jeder wahre Christ, ob lebend oder tot, hat Anteil an allen Gütern Christi und der Kirche; Gott gewährt ihm dies auch ohne Ablassbrief.“
(Ausgewählte Schriften, Bd. 1, S. 26 ff)
An den Akademien war ein Thesenanschlag nichts Außergewöhnliches. Die Aufforderung zur öffentlichen Disputation gehörte zum Alltag der Universität. Doch direkt an der Tür der Schlosskirche war das Anbringen eines Thesenpapiers, das der Distriktdiakon selbst verfasst hatte, sicher etwas Besonderes, auch wenn man davon ausgeht, dass die Geschichte mit dem Annageln der Thesen die Frucht nachträglicher Dramatisierung sein könnte. Immerhin waren die rabiaten Vertriebsmethoden in Wittenberg so umstritten, dass der Ablassverkäufer Tetzel die Stadt nicht betreten durfte. Dennoch gelang es ihm Bürger herauszulocken und außerhalb der Stadt zu schröpfen. In Magdeburg trat Tetzel erfolgreicher auf.
Luther war nicht nur Bibelprofessor und Distriktdiakon, er war vor allem Prediger. Er widersprach der Politik von Papst und Erzbischof als Priester und Seelsorger. Er verärgerte damit nicht nur Papst und Kaiser, sondern auch den mächtigen Erzbischof und die Fugger. Zwei Bedienstete des Augsburger Bankhauses gehörten zu Tetzels ständigen Begleitern und Kritik am Ablasshandel war nicht nur aus deren Sicht geschäftsschädigend. Luthers Thesen wirkten ganz unerwartet wie Sprengstoff. Plötzlich stand der Seelsorger Luther mitten im Fokus der großen Politik. Niemand an der Universität meldete sich, um zu disputieren. Dafür sorgten umso mehr Menschen für die Verwandlung der Thesen in eine Kampfschrift. Als Flugschrift verbreiteten sie sich dank der Druckerpresse mit rasender Geschwindigkeit in ganz Deutschland. Sie fand ein enormes Echo. Die Akteure der großen Politik mussten reagieren. 1518 hatten die Verteidiger der Ablasspolitik Erfolg mit einer Ketzerklage beim Papst.
Der Prozess wurde nicht sofort durchgezogen, erst 1521 stand der Wittenberger Prediger in Worms vor dem Gericht von Kaiser und Papst. In diesen drei Jahren dachte er durchaus an das Schicksal von Jan Hus, an jenen Reformator, der 1415 vom Konstanzer Konzil auf den Scheiterhaufen gestellt wurde. 1519 folgte dann die große Disputation in Leipzig zwischen Luther und Johannes Eck, in der sich der hitzige Wittenberger zu Äußerungen verleiten ließ, die ihn an die Seite von Johann Hus stellten. Aber der sächsische Kurfürst Friedrich der Weise konnte und wollte seinen berühmten Professor schützen. Und er war nicht der einzige Fürst, der mit Luthers Ideen sympathisierte. Das verbesserte dessen Lage.
Nach dem Tod von Kaiser Maximilian (12. Januar 1519) übernahm Kurfürst Friedrich zudem eine politische Schlüsselrolle. Bei der Kaiserkür hatte keiner der Kandidaten eine Mehrheit im Kurfürstenkolleg und es gab heftige Rivalitäten. Der Habsburger Karl, der englische König Heinrich VIII. und der französische König Franz I. stritten um die Gunst des Wahlgremiums. Große Beträge flossen in die Taschen der Kurfürsten.
852.000 Gulden soll sich Karl V. geliehen haben, um die Kurfürsten auf seine Seite zu ziehen, das meiste davon bei den Fuggern. Im Hintergrund versuchte der Papst, die Wahl des Habsburgers zu verhindern, da dieser mit seinen Territorien in Spanien und Italien ein Gegengewicht gegen Ambitionen des Kirchenfürsten bildete. Leo X. brachte daher Friedrich den Weisen, Luthers Schutzherren, als Kompromisskandidaten ins Spiel. Dieser hätte Chancen gehabt, lehnte aber ab. Nach der Wahl von Karl V. (am 28. 6. 1519) nahmen dann aber die Dinge in Sachen Luther ihren Lauf.
Am 15. 1. 1520 schleuderte der Papst seine Bannandrohungsbulle gegen den Kirchenkritiker und forderte, dessen Bücher überall zu verbrennen. Innerhalb von 60 Tagen sollte der Wittenberger seine inkriminierten Thesen widerrufen. Als dieser aber die Bulle des Papstes öffentlich verbrannte, war der Bruch mit der Kirche endgültig. Nach dem Reichstag in Worms, dem päpstlichen Bann und der kaiserlichen Acht brachte Friedrich der Weise seinen Schützling in aller Heimlichkeit auf der Wartburg in Sicherheit. Dort übersetzte der Geächtete und Gebannte in erzwungener Ruhe das Neue Testament ins Deutsche.
Doch durch Acht und Bann brachte die „große Politik“ die Welt der „kleinen Politik“ erst richtig in Wallung. Auch ohne Luthers öffentlichen Auftritt wirkten seine Schriften weiter. Denn er war ja in den Jahren zuvor (1517 bis 1521) nicht untätig, er verteidigte in öffentlichen Disputationen seine Thesen und gab zu allen strittigen Fragen Schrift um Schrift in Druck.
Das, was ihn seit Beginn seiner Bibelstudien im Innersten bewegte, entfaltete er in diesen Texten zu einem „Glaubenssystem“. Die theologische Entdeckung bestand nach seinen Worten darin, dass „Gottes Gerechtigkeit offenbart wird in dem was geschrieben steht: der Gerechte wird aus Glauben leben“ (Lilje, S. 67; Aland, S. 153f). Dieses „sola fide“ und „sola gratia“ wurden zum Kerngedanken einer neuen Konfession.
Diese Neuinterpretation verwandelte den Gott der Gerechtigkeit aus einem strafenden Richter in einen passiven Lehrer, der aus reiner Barmherzigkeit als Heiliger Vater durch die Heilige Schrift dem, der glaubt, den Zugang zum Himmelreich und zur Gnade der Vergebung öffnet.
Aus dieser Überzeugung erklärt sich auch die Energie, mit der Luther ab 1518 in kurzer Zeit viele seiner wichtigsten Schriften veröffentlichte. Diese Schriften erzeugten gerade in der Zeit, in der Luther sich auf der Wartburg verbarg, Bewegungen, die eine religiös gemeinte Botschaft über alle Maßen politisierten. Andreas Karlstadt und Thomas Müntzer waren die bekanntesten unter deren, die die politische Dynamik aufnahmen und förderten.
Immer mehr Mönche verließen die Klöster. Die neue Bewegung ergriff zunächst die Städte und mobilisierte dort vor allem die Armen. Dann verbreitete sie sich über das flache Land, wo die Leibeigenschaft ursprünglich vorherrschte. Die Armen in den Städten (oder ihre Vorfahren) kamen ja ursprünglich meist als Landflüchtlinge in der Stadt. „Stadtluft macht frei nach Jahr und Tag„, so hieß der Rechtsgrundsatz. Ein Jahr offiziell in der Stadt, das beendete die Leibeigenschaft. So entstand in Stadt und Land eine Macht, die alle Herrschaftsstrukturen in der feudalen, aber auch in der bürgerlichen Welt infrage stellte. Die „Masse Mensch“ wurde zu einer elementaren Kraft, die durch eine eidgenossenschaftliche Selbstorganisation auf legale Art einen politischen Willen ausbilden konnte. Dieses Recht war durch Hörigkeit und Leibeigenschaft der Masse der Bauern verwehrt. Es ist nur zu verständlich, wenn die reformatorische Botschaft sich schnell mit einem politischen Programm verband.
Luther verließ angesichts wachsender Unruhen die Wartburg und stemmte sich gegen diese Politisierung seiner Ideen. Doch in allen Städten gab es schwere Konflikte und soziale Unruhen und ab 1525 flammten im ganzen Reich die Bauernkriege auf. Es bildeten sich bewaffnete Bauernbünde, die von Kreisen des Landadels, kleinen Städten und einzelnen Vertretern der Ritterschaft unterstützt wurden. Die 12 Thesen des Kürschnergesellen Sebastian Lotzer aus Memmingen – dem bedeutendsten Programm der Bauernverbände – forderten freie Wahl des Pfarrers , Zehntpflicht und Leibeigenschaft aufzuheben, sowie das Recht, Wald und Flur ungehindert bejagen und nutzen zu dürfen und von Frondiensten und Abgaben befreit zu werden.
Luthers Kritik an den 12 Thesen („Vermahnung zum Frieden auf die zwölf Artikel der Bauernschaft in Schwaben“, AW IV, S. 100ff) blieb ungehört und der Reformator verschärfte den Ton in seiner umstrittensten Schrift „Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der andern Bauern“ (a.a.O., S.132f). Er enttäuschte die Bauernbewegung, die sich ja gerade auf ihn berufen wollte, zutiefst und bereitete – gewollt oder ungewollt – den Boden vor für jenes Bündnis, das Deutschland bis ins 18. Jahrhundert beherrschte.
Spätestens mit dem Westfälischen Frieden 1648, der den dreißigjährigen, den große deutschen Krieg beendete, galt der Rechtsgrundsatz „cuius regio, eius religio “ (Der Bürger hat das Bekenntnis des Fürsten anzunehmen (oder auszuwandern)). Dieses Bündnis der Protestanten mit den Fürsten hat die deutsche Geschichte nachhaltig geprägt und die Entwicklung eines starken Nationalstaates aber mehr behindert als gefördert.
Es war zu einfach, nur die blutige Seite die Bauernaufstände zu verdammen. In einem günstigeren Klima hätten die ersten Bauernparlamente sicherlich Verbündete in den Städten gefunden. Der (keineswegs linke) Historiker Walther Peter Fuchs beschreibt die damalige Lage nüchtern so:
„Nirgends hatten utopisch schwärmerische Ideen die Oberhand gewonnen. Möglichkeiten vertraglicher Einigung zur Neugestaltung des bäuerlichen Lebens unter Einschluß von Bürgertum und Adel aufgrund gemäßigter Forderungen zeichneten sich ab.“ (Fuchs, S. 120).
Doch die Verträge zwischen Bauernregierungen und Fürsten waren nur Tarnung, um die Niederschlagung aller Aufstände vorzubereiten. Es bildeten sich keine politischen Strukturen und Organe eines „Volkswillens“, es entstand kein Ethos einer werdenden „Nation“. Durch das Bündnis der Landesherren und der Stadtpatrizier wurde weiter gewebt am Flickenteppich der werdenden Territorialstaaten. Der Sieg der deutschen Version des „Absolutismus“, der nackten Fürstenmacht war so für etwa zwei Jahrhunderte gesichert. Die „deutschen Lande“ folgten nicht dem Beispiel Englands und Frankreichs, sie gingen schon gar nicht jenen höchst erfolgreichen Weg, den die Niederlande gegen das Heilige Römische Reich und die spanischen Habsburger einschlugen, jene kleine Macht am Meer, die – zusammen mit England -schon vor dem „Großen Deutschen Krieg“ in wenigen Jahrzehnten Spanien als Welt- und Handelsmacht ablösten.
Auch im Kleinen, in und um Magdeburg herum häuften sich die sozialen Konflikte. Im Februar 1525 forderte die „gemeine Bürgerschaft“, dass sie selbst über die Stadtviertel Vertreter im Rat selbst wählen darf. Das war zuvor ein Vorrecht der Innungen. Die Stadtviertel entsprachen den Kirchensprengeln und sie waren so sehr stark von den dortigen Predigern beherrscht. Den gewaltsamen Aufruhr konnte der Bürgermeister Sturm nur mühsam verhindern durch Zugeständnisse, die allerdings schon im nächsten Jahr wieder zurückgeschraubt wurden.
In dieser Zeit sammelten sich die Truppen der Fürsten zur Niederschlagung der Bauernaufstände in Thüringen. Auch der Rat war bereit, Soldaten, Geld und Kriegsmaterial hierfür bereitzustellen. Mit der Niederlage der „Bauernhaufen“ am 15. Mai 1525 bei Frankenhausen verschoben sich die Kräfteverhältnisse so sehr, dass eine gesamtdeutsche Perspektive des Aufstandes ausgelöscht wurde. Die lokalen Interessen hatten danach absoluten Vorrang.
Im Dessauer Bund schlossen sich die katholischen Fürsten zusammen, um die überall schwelenden Unruhen besser bekämpfen zu können, Zu diesem Bund gehörte der Magdeburger Erzbischof Albrecht. Als protestantische Reaktion bildete sich ein dreiviertel Jahr später der Torgauer Bund, dem sich die Stadt Magdeburg anschloss als einzige Stadt unter den verbündeten Fürsten. Für den Stadtherrn, den Erzbischof Albrecht war das ein großer Treuebruch. Aus dem Torgauer Bund ging dann das Bündnis von Schmalkalden hervor, über das in einem anderen Portrait zu berichten ist.
Nach der Niederlage der Bauern, deren Aufstand erst zu voller Kraft kam durch die Unterstützung vieler kleiner Städte und durch Teile des Landadels, zogen sich Adel und Stadträte wieder in ihre traditionellen Rollen zurück. Die Stadträte beharrten auf der Verteidigung von Privilegien und Monopolen, die sie von den Fürsten erhalten hatten und die sie erneuert und gesichert wissen wollten. Der Erzbischof wusste dies geschickt zu nutzen, indem er in der Altstadt (nicht aber in der Domfreiheit) die neue Form des Gottesdienstes und der Kirchenordnung gestattete. Er ließ auch über eine Abmachung verhandeln, die erneut die Rechte der Stadt bestätigen und dem Rat weitere Hoheitsrechte zubilligen sollte.
Doch auch der Magdeburger Rat nutzte mit dem Beitritt zum Torgauer Bund seine Möglichkeiten. Über den Verlauf der Reformation entschieden dennoch – trotz aller Konflikte unter den Territorialherren – letztendlich die Fürsten. Die großen Städte suchten sich in diesem Machtkampf lediglich zu behaupten. Das patrizische Bürgertum war fest in das Lehnswesen eingebunden und die Motive der einfachen Bürger, Bediensteten, Tagelöhner, kleinen Händler und Gewerbetreibenden waren den hohen Ratsherren wohl ebenso fremd wie vielen Adelsherren die Motive ihrer Bauern.
So wie das Lehnswesen im ganzen Reich, so war auch das Zunftwesen in den Städten eine starke Fessel. Leibeigenschaft und die Fronarbeit stabilisierten die Adelsherrschaft auf dem Lande, das Regime der großen Innungen vermittels der Zunftordnungen stabilisierte die Patrizierherrschaft in den freien Städten. Die Bauern und die einfachen Stadtbürger hatten mit ihren kurzlebigen Bünden und ihren kleinen, schwachen Innungen dem Bündnis dieser „Großen“ wenig mehr entgegenzusetzen als ihre Fähigkeit zum Aufruhr. Die Stadtoberhäupter waren zu eng mit Adel und Fürsten verbandelt, um den Entschluss zu fassen, das Staatsrecht, das sich schon damals herausbildete, im Sinne der relativ liberalen Tendenzen des Stadtrechts durch ein neues Regime und ein gemeinsames Landrecht zu beeinflussen. Erst die Aufklärung machte das Naturrecht und den Konstitutionalismus zur Kernforderung der politischen Bewegungen des Bürgertums. Im Heiligen Römischen Reich war die Reformation aber ein erstes Aufwachen und Kräftemessen. Denn im Gewand religiöser und liturgischer Dogmen versteckte sich nicht zuletzt die Suche nach dem „richtigen“ Menschenbild.
Dies gilt insbesondere für die Rechtsfertigungslehre, ein Hauptthema der Reformation: Nicht durch gute Taten, sondern allein durch die Gnade Gottes kann die Seligkeit erlangt werden. Bei allen Reformatoren war Gottes Gnade der einzige Weg zu Gottes Gerechtigkeit. Diese Entscheidung veränderte das gesamte öffentlich akzeptierte Moralkonzept, das im Menschen die richtige, innere Haltung erzeugen und legitimieren sollte, es veränderte sowohl den Blick auf die herrschenden Autoritäten, als auch auf das eigene Seelenleben. Das Bild von Gott dient ja als Passepartout für das Selbstbild und für das Bild von der „Natur“.Die Reformation bekämpfte in den Fragen der Moral alle Instanzen, die sich zwischen die göttliche Dreifaltigkeit, das christliche Bild von dem „einen Gott“) und den Geist und die Seele des Eizelmenschen gedrängt hatten, um als Gottesmacht Weltmacht zu erwerben.
Diese Grundeinstellung verband alle Reformatoren und setzte sie gemeinsam als unbestreitbare „Antithese“ gegen „Thesen“ der römisch-katholischen Kirche, die ihre vorgeblich gottgegebenen weltliche Autorität solange verteidigen musste, wie sich ihre offizielle Grundhaltung nicht ebenfalls reformiert hatte. Denn erst die allgemeine Konfessionalisierung, die kontrollierte und begrenzte Freigabe der „Bekenntnisse“ war die Lösung, auf deren Basis sich die Konflikte für viele Jahrzehnte beruhigen konnten. Dennoch beharrte die katholische Kirche darauf, dass sich der Mensch auch durch sein Tun gerecht machen müsse, dass die Gnade ihm nicht umsonst geschenkt würde. Doch auch Lither hatte niemals derart platt gedacht und argumentiert. Erst zum Reformationstag 1999 kann es dann doch immerhin zu einer gemeinsamen Erklärung zu dieser Frage.
Mit der Negation der heilstiftenden Rolle der guten Werke war die Trennungslinie zwischen den Konfessionen so markiert, dass die „Lagergrenzen“ klar abgesteckt waren. Doch diesseits dieser Grenze gab es unter den Protestanten weitere Themen , die die „Kampfeinheit“ wieder auseinanderrissen und die Theologen in endlose Streitgespräche verstrickten. Es ging vor allem um die Teilhabe der Gemeinde am Abendmahl und um die Interpretation der Symbolik von Brot und Wein. Auch die katholische Kirche hatte hierüber schon Jahrhnderte lang gestritten. Stark vereinfacht waren die Positionen in der Reformationszeit diese:
Ist das Brot der Leib Christi (für die Gemeinde) und der Wein (für die Priester) dessen Blut (Katholische Kirche)?
Oder ist – nur dank der feierlichen „Zeremonie“ – Christus in Brot und Wein mit seinem vergossenen Blut quasi physisch als Auferstandener „in beiderlei Gestalt“ präsent (Luther).
Oder dient Brot und Wein im Abendmahl nur als Symbol, das die Gläubigen verbindet (Zwingli).
Oder sind Brot und Wein lediglich ein Mittel, das durch gemeinschaftliches Essen und Trinken Gottes Gnade in der Gemeinde im Gemeinschaftsgefühl „verwirklicht“ (Calvin)?
Das sind Debatten, die mir immer etwas seltsam erschienen. „Weltfremde“ Fragen haben aber in der religiösen Ideenwelt eine ganz besondere Bedeutung. Sie geben nicht nur Regeanweisungen für die Lithurgie. Mehr noch: Die Dogmatik ist in der Theologie – wie in der Rechtswissenschaft – unbestreitbar die grundlegende Disziplin. Denn sie erzeugt das, was für wahr gehalten werden soll, und sie passt diese Wahrheitsdefinitionen dem an, was „die Zeit“ erfordert.In der REligion geht es insbesondere um das Gottesbild. Denn dieses dient dem Seelenleben der Menschen mit seiner gesamten Symbolik als ein Spiegel, besser vielleicht_ als Spiegelwelt.
Luthers Position in der Abendmahlsfrage war – für seine Zeit – durchaus gemäßigt. Er hätte sich mit der katholischen Kirche einigen können, wenn er den Katalog der Sakramente um Buße und Beichte wieder erweitert hätte. Doch gerade in den „sozialen Brennpunkten“ feierten viele von Luther beeinflusste Prediger im Abendmahl ganz bewusst als gemeinsame Mahlzeit, die die Gemeinsamkeit in der Gemeinde fördert, und vielerorts traten zudem „Wiedertäufer“ auf, die auch noch den Sinn der Kindstaufe bezweifelten und diese im Erwachsenenalter wiederholen wollten. Für diese Extrempositionen muss auch Luther fast so etwas wie ein gemäßigter Papst, zumindest aber so etwas wie ein Dogmatiker gewesen sein, ein Schriftgelehrter, der letztlich doch allzu weltfremd war. Die gemeinsame Stoßrichtung all dieser religiösen Bestrebungen war aber die Lossagung von der Autorität der Papstkirche. Und hier hatte auch Luther Position zu beziehen. Zwischen denen, die den Papst quasi zur Gottheit stilisierten, und denen, die den Papst als Antichrist und als Inkarnation des Teufels bekämpften, war in der Reformationszeit alles im Fluss. In allen Debatten ging es aber – bei Licht betrachtet – dann doch allzu oft doch wiederum nur um Macht- und um mehr oder weniger ausgewiesene Wahrheitsansprüche. Aber dennoch standen hinter der gesamten reformatorischen Bewegung ein tiefes mystisches Bedürfnis und eine große Leidenschaft.
In der Welt der religiösen Überzeugungen sowohl in der frühen Neuzeit, als auch im gesamten Mittelalter gab es ein Ringen um Identität von Weltlichem und Göttlichem und eine Sehnsucht nach Intimität mit dem Absoluten, eine Suche nach einer maximalen Nähe zu diesem unfassbaren „Gegenstand“ GOTT. Wer sich mit ihm so befasste, wie es die Reformatoren Wiclef, Hus, Luther, Zwingli und Calvin taten, hatte sich unvermeidlich abzustoßen von einer Welt voller Tatsachen und Überlieferungen, von einer „verfehlten“ Geschichte, in deren Anfängen dennoch die „echte“ Wahrheit zu suchen war. Die Ablehnung der römischen Papstkirche führte notwendig zurück ins „Urchristentum“.
Es ist daher kein Wunder, dass das Interesse an der Erforschung der geschichtlichen Entwicklung wuchs. Denn hier hoffte man Beweise zu finden dafür, dass die Botschaft, die die Römische Kirche verkündete, sich als eine Verfälschung des wahren Christseins mit Gewalt gegen das Urchristentum durchgesetzt hatte. So entstand auch bei Luther am Ende das Bild vom Antichrist, der der Welt in der Gestalt des Papsttums (als Institution, nicht aber der Päpste als Individuen) erschienen ist (Wider das Bapstum zu Rom vom Teuffel gestifft (1545)).
Hinter Luthers Lebensentscheidungen nach 1517, in der Zeit, in der ihn die Konflikte mit Papst und Kaiser immer weiter weg trieben von der traditionellen Kirche, in dieser Zeit stand immer auch die Entdeckung im Fokus, dass viele scheinbar ewig gültige, gottgegebene Dogmen erst später entstanden, dass sich das Papsttums insgesamt nur ganz unchristlich aus Macht- und Wahrheitsansprüchen einer Institution, nicht jedoch aus der Bibel begründen ließ.
Johann Fritzhans und die Reformation in Magdeburg
Magdeburg stand damals nicht im Zentrum der Bewegung. Gerade im norddeutschen Raum hatte die Stadt, in der die fünf großen Innungen seit fast zwei Jahrhunderten den Rat beherrschten, aber dennoch besondere Anziehungskraft. War dieser Ort doch eine der wenigen Städte Deutschlands, die neben großem Reichtum auch umfassende Kontrolle über die Stadtmauern hatte. Auch die kleinen Innungen waren im Gegensatz zu den meisten andren Städten seit 1330 im Rat der Stadt vertreten. Die Stadt war die Metropole eines Erzbistums, dessen Oberhaupt Halle/Saale zu seiner Residenz gemacht hatte – aus Respekt vor der magdeburgischen Bürgerfreiheit. Eine Stadt, die – außerhalb der Domfreiheit – ganz von den Organen der Bürgerschaft beherrscht wurde, musste all jenen als geeignete Fluchtburg erscheinen, die aus klösterlichen Sicherheiten heraus in die ungesicherte Freiheit des „Protestantentums“ hineingetrieben wurden. Die Elbestadt wurde so zum Sammelpunkt einer hochkarätigen Mischung von Kloster- und Glaubensflüchtlingen.
Einer von ihnen war Johannes Fritzhans. Noch 1520 verteidigte er in Leipzig energisch den katholischen Glauben. Dort disputierte Ende 1519 der katholische Theologe Johannes Eck mit Luther, Karlstadt und Melanchthon, was der Franziskaner Fritzhans in seinem Leipziger Kloster sicher aufmerksam verfolgt hat. Dort wird er im Gefolge der Wittenberger Delegation auch Johann Agricola, den „Magister von Eisleben“ (daher auch Johann Islebius genannt) getroffen haben. Die Gespräche mit Islebius weckten erste Zweifel in ihm, so berichtet es die Allgemeine Deutsche Biographie. In jedem Falle verteidigte er damals seinen Ordensbruder Augustin Alveldt, der „jeden zum Ketzer erklärte, der das göttliche Recht des Papsttums nicht akzeptiere“. Gegen diesen richtete Luther 1520 die Schrift „Vom Papsttum in Rom, wieder den hochberühmten Romanisten (Romliebhaber) zu Leipzig“.
Schon vor 1523 kam Fritzhans zurück in seine Geburtsstadt Magdeburg und trat dort wiederum ins Franziskanerkloster ein. Dort oder schon zuvor, änderten sich seine Überzeugungen. Fritzhans wurde zum entschlossenen Verteidiger des Reformators. Die Lektüre der Schriften Luthers hatte auch beim ihm gewirkt – sicherlich spielte auch das lebhafte Umfeld eine Rolle: die Altstadt mit Rathaus und dem Altem Markt vor der Tür und das Augustinerkloster zweihundert Meter entfernt an der Elbe, vom Franziskanerkloster aus vorbei an der Katharinenkirche über die Tischlerkrug- und die Vogelgreifstrasse zur Petri- und Wallonerkirche. Schon 1522 hatten die lutherischen Lehren das Augustinerkloster erfasst.
Die Augustiner Johannes Voigt-Eisleben und Melchior Mirisch waren die entschiedensten Anhänger der Reformation. In der Petrikirche neben dem Augustinerkloster begannen Markus Schulte und Johann Detenhagen mit der neuen Form des Gottesdienstes (Asmus S.433). Die Augustinermönche kannten Luther noch aus seiner Zeit als Distriktdiakon, da dieser das Kloster seinerzeit persönlich visitierte. Aber bei den Franziskanern bekämpfte der Abt weiter die neuen Lehren und für Fritzhans wurde die Lage unerträglich. 1523 erhielt er ein Predigtverbot und man sperrte ihn in seine Zelle. Er trat wie Luther den Beschuldigungen mit dem Argument entgegen, dass er nur gehorchen werde, wenn man ihn aus der Heiligen Schrift widerlege. Doch niemand stellte sich zu einem öffentlichen Disput. So flocht sich Fritzhans aus der zerschnittenen Kutte einen Strick und „seilte“ sich durch das Fenster ab, um auf der anderen Seite des Breiten Weges bei Ludwig Alemann Schutz zu suchen. So schildert es ein Drama zum 100jährigen Jubiläum der Lutherpredigt (Nahrendorf, S. 231).
Ludwig Alemann war damals Schultheiß, nachdem er als Bürgermeister 1522 aus dem oberalten Rat ausschied. Ich berufe mich hierbei nur auf die genealogischen Unterlagen. Hertels Liste der Schultheißen bestätigt dies nicht. Gleich, welche Funktion der Beschützer von Johannes Fritzhans damals hatte, der gesamte Rat stand beileibe nicht begeistert hinter den neuen Formen von Gottesdienst und Gemeindeleben. Die Bürgermeister suchten 1521 sogar den Erzbischof in Halle auf, um ihn zu Maßnahmen gegen die neuen Prediger zu bewegen. 1523 waren sie erneut bei Albrecht, um sich für ihre unruhigen Bürger zu entschuldigen.
Wenn Ludwig also 1523 Fritzhans aufnahm, entsprach das nicht der Ratspolitik, sondern seiner eigenen Haltung. Vielleicht hoffte er, in diesem Mönch jemanden zu finden, der zukünftig im Sinne des Rates auf die Entwicklung Einfluss nehmen könnte. Fritzhans ging nach kurzem Aufenthalt im Haus von Ludwig Alemann nach Wittenberg, um Luther zu hören. 1524 kehrte er zurück, denn in der Stadt war die Reformation auf dem Vormarsch. In Wittenberg könnte er den ehemaligen Probst des Halberstädter Johannisklosters, Dr. Eberhard Weidensee getroffen haben, mit dem er nach 1524 in Magdeburg eng zusammenarbeitete.
Zurück in Magdeburg, standen Weidensee, Fritzhans und die Augustiner einer veränderten Stimmung der Bevölkerung gegenüber. Bekannt wurde ein „ausgelauffener Mönnich von Helmstet all hier in Sudenburg kommen mitt namen Grewe Köppe“ (Graukopf, in der Literatur meist Grauert, Vorname unbekannt (SC 2, S107)). Der war wohl ein begabter Redner, allerdings ohne Priesterweihe. Er propagierte – wie viele junge Prediger – auch in Magdeburg eine Reformation im Geist von Thomas Müntzer. Man lud ihn ein, am Knochenhauerufer in der von der Johanniskirche betreuten Gertraudenkirche zu predigen. Er gewann schnell eine große Anhängerschaft im Viertel um die Jakobskirche. Sein Auftreten zerstörte aber endgültig den Zusammenhalt im Rat. Während der Bürgermeister Niklaus Sturm (Claus Storm) die Auftritte von Grauert duldete, ließ sein Bürgermeisterkollege Hans Rubin (Robien) Grauert durch einen Knecht das Predigen verbieten. Doch der nutzte das Verbot und zog „mit viel Volks“ vor die Stadtmauern aufs freie Feld, um dort umso heftiger zu predigen.
Grauert wurde gegen den Widerstand des Rates zum Prediger der Jakobikirche bestellt. In diesem Viertel lebten insbesondere Handwerker, Tagelöhner und Arme, die oft noch enge Beziehungen zu den Dörfern hatten, aus denen sie ja ursprünglich kamen. Die Aktionen von ihrer Seite häuften sich:
„Es haben auch etzliche Buben vom gemeinen Haufen Thomas Sultzen (dem ältesten der 6 Bürgermeister, DvA) zu schanden und schmach Briefe an funf örter der Altenstadt angeklebt, darinnen sie ihn einen langen Dieb und Stadtvortreter etc. gescholten. Das ist geschehen in der Nacht nach Ausgang Sanct Margarthen tagk.“
Das berichtet der Möllenvogt Langhans (SC 2, S. 154). Die Predigten der Anhänger Luthers fielen auf fruchtbaren Boden. Grauerts Predigten verschärften die Situation. All das zeigte Wirkung: der Rat musste nachgeben. Er suchte ab 1523 immer deutlicher einen Weg, gemäßigte Lutheraner systematisch zu fördern.
Dass die Ratsherren in Fritzhans einen guten Vertreter gefunden hatten, zeigte sein beherztes Eingreifen in Situationen, in denen die Gewalt sich Bahn brechen wollte. Am 14. Juli 1524 kam es in der Johanniskirche zu einem Tumult wegen der Ablehnung der Wahl neuer Priester durch den Probst des Klosters Unser Lieben Frauen, der bisher für die Auswahl und Ernennung der Priester zuständig war. Dabei wären einige Personen zu Schaden gekommen
„so solches Fritz Hans nicht hette mit Macht gewehrte, denn er hatte ein Stock in die Hand überkommen und war uff einen Kasten gesprungen, rief und schlug so viel, daß die rumorischen Leute wider besinnet wurden“, woraufhin Fritzhans auf den „Predigtstuel gestiegen sey“. (SC 2, 153, Hertel/Hülße S.354ff)
Das politische Klima in der Altstadt hatte sich radikal geändert. Die reformierten Kirchensprengel wählten aus ihren Reihen eigene Vertreter. Manche Viertel weigerten sich, Abgaben für das Domkapitel an den Rat abzuführen. Die Ratsverwaltung wurde wegen ihres Widerstands gegen diese Praktiken als Handlanger des Klerus beschimpft.
In den meisten Kirchen der Altstadt hatte sich der Geist der Reformation damals aber schon längst eingenistet. Jetzt geriet auch der Dombezirk immer stärker unter Druck und die reicheren Viertel der Bürgerstadt veränderten ebenfalls ihre Kirchenordnung. Damit wuchs der Druck auf jene Pfarrer, die das Alte verteidigten. Die Oberschicht und der Rat konnten nicht länger bei Halbheiten stehen bleiben. Daher rief Nicolaus Sturm Luther, den er persönlich kannte, in seiner Eigenschaft als Presbyter zur Vermittlung in die Stadt, er tat das nicht als Bürgermeister, sondern als Vertreter seines Kirchensprengels.
Durch Luthers Auftritt wurde schließlich die Reformation auch mit Unterstützung des Rates in der ganzen bürgerlichen Altstadt auf gemäßigte Art durchgesetzt. Gegenüber den beharrenden Kräften im Dombezirk gingen auch die Gemeinden der Ulrich- und Johanniskirche in die Offensive. Sie wählten ebenfalls einen Gemeindeausschuss, der Dr. Eberhard Weidensee zum Pfarrer von St. Ulrich bestimmte. Der alte Pfarrer, der weiterhin de jure das legitime Gemeindeoberhaupt war, wurde aufgefordert, den neuen Prediger und den neuen Gottesdienst neben sich zuzulassen. Dasselbe passierte in der Johanniskirche. Johannes Fritzhans wurde kurzzeitig Prediger, von 1524 bis 1532 war er dann Pfarrer der Heilig-Geist-Kirche. Zusammen mit Mirisch und Weidensee verfasste Fritzhans 18 programmatische Artikel, die der reformatorischen Bewegung in der Stadt Orientierung geben sollten:
Allein Christus sei der Mittler zwischen Gott und den Menschen; Fegefeuer, Papst- und Priestertum seien menschliche Erfindungen. Allein die Heilige Schrift und Gottes Wort sei verbindlich. Das habe die Ordnung der Gemeinde zu bestimmen. (Hertel/Hülse, Bd. 1, S. 360f)
Ludwig und die ersten 20 Jahre der Reformationszeit
Ludwig Alemanns Zeit als regierender Bürgermeister fiel in die Jahre 1505 bis 1520. Außer dem Bericht über die Aufnahme von Fritzhans in seinem Hause ist wenig über ihn bekannt. Er stand neben Thomas Sülte, dem erfahrenen Altbürgermeister, eher im Hintergrund. Die weiteren Bürgermeister der Reformationszeit waren Henning und Claus Storm, Heinrich Westphal und Hans Robin.
Bürgermeister in Ludwig Alemanns Amtszeit
Name | Funktion | von-bis | (3-Jahres-Wechsel) |
Thomas Sülze | 1. Bürgermeister | 1496-1526 | 30 Jahre |
Hanß Aleman | 1. Bürgermeister | 1498-1507 | 9 Jahre |
Thomas Rode | 2. Bürgermeister | 1500-1512 | 12 Jahre |
Ludewig Aleman | 2. Bürgermeister | 1505-1520 | 15 Jahre |
Hanß Robien | 1. Bürgermeister | 1506-1524 | 18 Jahre |
Heinrich Westphal | 1. Bürgermeister | 1510-1531 | 21 Jahre |
Thomas Aleman | 2. Bürgermeister | 1515 | 3 Jahre |
Claus Storm | 2. Bürgermeister | 1518-1536 | 18 Jahre |
Henning Storm | 2. Bürgermeister | 1498-1523 | 25 Jahre |
Thomas Sülte hatte mit 30 Amtsjahren (1496 bis 1526) – doppelt so lange wie Ludwig Alemann – ganz eindeutig die meiste Erfahrung und das größte Gewicht. Er unterzeichnete schon 1497 die große Übereinkunft zwischen Ernst von Sachsen und dem Rat der Altstadt. Wenn es um Verhandlungen und öffentliche Auftritte ging, war Sülte in der Regel mit dabei. „Mit 96 Pferden“ empfingen Claus Storm, Thomas Sülte und Heinrich Westphal 1518 vor den Stadttoren den frisch geweihten Kardinal Albrecht, der mit „500 Pferden“ anrückte (SC 2, S.4). 1521 forderte Sülte gemeinsam mit Nicolaus Storm in Halle das Verbot des Verkauf lutherischer Bücher, 1523 bat er wiederum in Halle zusammen mit Hennig und Nikolaus Storm sowie dem Kämmerer Jakob Gericke um Nachsicht, da der Rat „dem Treiben der Menge keinen Einhalt mehr thun“ könne. Erst 1524 entschied sich der Rat, eindeutig Position zu beziehen gegen Albrecht von Brandenburg, den Stadtherrn und das Kirchenoberhaupt.
Der Stadtherr lieferte mit seiner aggressiven Ablasspolitik zwar den Anlass, der die reformatorische Bewegung in Schwung brachte, er war aber selbst keinesfalls ein radikaler Gegner der Reformation. 1513 starb der Erzbischof Ernst von Sachsen. Sein Grabmal schmückt bis heute die Marienkapelle im Dom. Ihm folgte als Erzbischof Albrecht IV, der jüngste Sohn des Kurfürsten Johann Cicero von Brandenburg. Der achtzehnjährige Albrecht entschied sich 1508 für eine geistliche Laufbahn und wurde Domherr in Magdeburg und ein Jahr darauf auch Domherr in Mainz. 1513 ernannte man ihn zum Magdeburger Erzbischof und zum Administrator des Bistums Halberstadt. Doch das genügte ihm nicht. Am 9. März 1514 kaufte er sich für 30.000 Gulden das Mainzer Erzstift hinzu.
Hierzu bemerkte Luther in der Erwiderung auf das Papstlob von Augustin Alfeldt:
„Das Mainzer Bistum hat seit Menschengedenken ungefähr acht Bischofsmäntel gekauft, von denen jeder etwa 30.000 Gulden kostete. Ich schweige von den anderen unzähligen Bistümern, Prälaturen und Lehen. So soll man uns deutschen Narren die Nasen schneuzen und danach sagen, es sei göttliche Ordnung, keinen Bischof ohne römische Gewalt zu haben. Mich wundert, dass Deutschland, das ja zur Hälfte, wenn nicht mehr, geistlich ist, noch einen Pfennig hat für die unaussprechlichen, unzähligen, unerträglichen römischen Diebe, Buben und Räuber.“ (AW III, S.13)
Mit dem Mainzer Erzbistum erwarb Albrecht auch das Amt des Erzkanzlers des Heiligen Römischen Reiches. Er hatte so ab 1514 einen direkten Zugang zum Kaiser. Der damals gerade einmal 23-jährige Doppel-Erzbischof war ein Kind seiner Zeit, gebildet und weltoffen. Er stand in Kontakt mit Erasmus von Rotterdam und den Humanisten. Er unterstützte Ulrich von Hutten seit 1514 und nahm diesen 1518 in seine Dienste, bis Hutten sich 1520 Franz von Sickingen anschloss, jenem Ritter, der für die Rechte der Ritterschaft, also für den unteren Landadel kämpfte. 1522 wurde Sickingen vom Landtag in Landau in der Pfalz zum Bundeshauptmann gewählt. Er führte den Ritterbund in einen Krieg gegen das Erzbistum Trier. Doch – ähnlich wie die reiche Bürgerschicht in den freien Städten – verhielt sich der Landadel in dieser Situation zunächst einmal abwartend. Sickingens Aufstand wurde vom Schwäbischen Bund schnell niedergeschlagen.
Diese Episode soll zeigen, wie eng damals die Handlungsoptionen beieinanderlagen und wie wenig man von einfachen und klaren Frontstellungen ausgehen darf. Kai Bösneck zeigt, dass Albrecht von Brandenburg den reformatorischen Anspruch des „sola scriptura“ sehr ernst nahm, er förderte die Bibellektüre und die Exegese der Schrift und reformierte sowohl die Verwaltung des Bistums als auch die Ausbildung von Priestern und Laien. Die Lehrer wurden gegen Bezahlung angestellt und der zentralen Administration des Erzbischofs unterstellt. Die Aufsicht über die Lehre wurde den Klöstern übertragen. Ab 1531 betrieb Albrecht mit päpstlicher Erlaubnis die Gründung einer Universität in Halle, doch das Vorhaben misslang. Die Mittel fehlten. Für eine katholische Universität wurde durch die Reformation auch das Umfeld immer schwieriger. Das Stift Halle baute der Kirchenfürst dennoch zu einem Reformstift aus. Die „altgläubigen Reformen auf lutherischer Basis“ (Bösneck, S. 228f) konnten die Dynamik des Aufbruchs und der Bewegung aber nicht ins katholische „Flussbett“ umlenken. 1541 verließ Albrecht IV. seine frisch ausgebaute Residenzstadt Halle an der Saale und damit auch seine Bistümer in Magdeburg und Halberstadt. Er resignierte und zog sich nach Mainz zurück, jetzt als scharfer als Gegner der Protestanten.
In der Metropole, die Ernst von Sachen verlassen hatte, um sich in Halle anzusiedeln, fühlte sich auch das neue Kirchenoberhaupt als Stadt- und Landesherr nicht mehr wohl. Auch Albrecht kam nur noch pflichtgemäß in seine „Hauptstadt“. Er war aber auch nicht ihr „Feind“. Die meisten Entscheidungen des neuen Kirchenfürsten waren moderat. In fast allen Fragen verglich er sich mit dem Rat der protestantischen Stadt und vermied es, gegen die reformatorische Bewegung gewaltsam vorzugehen. In der Phase, die für die Entwicklung in Magdeburg entscheidend war, in den Jahren 1523-1525 führten im Rat der Altstadt Thomas Sülte, Hans Robin, Henning und Claus Storm sowie Heinrich Westphal das Wort. Sie hätten damals vermutlich einen mäßigenden Eingriff des Stadtherrn sogar begrüßt.
In den folgenden Jahren überschlugen sich die Ereignisse und im Vorgriff sei dies erzählt: Die Turbulenzen und Wirren setzten sich fort bis schließlich – nach der Niederlage der Protestanten im Schmalkaldischen Krieg – 1550/51 der protestantische Fürst Moritz von Sachsen im Auftrag von Kaiser Karl V. die geächtete Stadt Magdeburg belagerte. In dieser Zeit spielten Alemänner wieder eine Hauptrolle – in einer Stadt, die eine Trutzburg des echten Luthertums bleiben wollte.
Von Ludwig Alemann ist mir in diesem Zusammenhang aber nichts weiter bekannt. Er lebte nach seinem Ausscheiden aus dem Rat noch bis 1543. An ihn erinnert das Epitaph, das den Anfang dieses Portraits schmückt, im unteren Teil das groß ausgearbeitete Alemannwappen mit einer ausladend dimensionierten Helmzier, darüber in großen Lettern der oben wiedergegebene Text. Klaus Kramer, dem wir die Informationen zu den Straßennamen und den Hauszeichen verdanken, fotographierte ihn im August 2004 für uns – zusammen mit einer kleinen Infotafel, die Folgendes berichtet:
„Alemann berief 1520 den Komponisten und Erfinder der Notenschrift Martin Agricola, zuerst als Musiklehrer für seine Kinder, nach der Reformation verschaffter er ihm die Stelle des Stadtkantors, als solcher schuf Agricola 1540 das erste Glockenspiel am Rathausturm (1631 zerstört.“
Ich fand zu dieser Information keine Belegstelle in den Quellen und Geschichtsbüchern. Dennoch ist diese Bemerkung interessant. Denn dieser Agricola, zu deutsch: Bauer, bekanntlich ein häufiger Name, war hinaus als kreativer Geist und Erneuerer eine Schlüsselfigur der Musikkultur in der ersten Phase der Reformation, allerdings war er nicht der „Erfinder“ der Notenschrift, für die er lediglich Verbesserungen vorschlug. Er kam aus bäuerlichen Verhältnissen und hatte zeitlebens Mühe, den Unterhalt für sich und seine Familie durch Musikertätigkeiten zu bestreiten.
Das galt auch für die Zeit, als er als Stadtkantor eine feste Anstellung bekam. Armin Brinzing erwähnt in seinem Portrait Ludwigs Bruder Heinrich Alemann (1466-1552) als Förderer des Stadtkantors. Die Brüder könnten also gemeinsam Unterstützer des Kantors und ihre Söhne Ebeling und Ludwig könnten beide dessen Schüler gewesen sein. Sicher ist jedoch, dass sich in Magdeburg unter den Ratsherren und Patriziern ein ganzes Netz von Mäzenen dieses Musikers bildete, denn ich fand in den Originalschriften, die im Internet auffindbar sind, einige Vorworte, die verschiedenen Ratsherren und Honoratonen in Magdeburg gewidmet sind.
Ludwigs Sohn Ludwig unterzeichnete dann auch jenen Vertrag, der 1547 die Messstiftung seines Großvaters Heinrich in ein Studienstipendium umwandelte, denn die Reformationszeit maß der Ausbildung der Jugend die allerhöchste Bedeutung zu.
Quellenangaben (auch für die Zwischenbemerkungen):
Urkunden:
– Die Chroniken der niedersächsischen Städte – Magdeburg, zweiter Band, Stuttgart 1962, (SC), S. 106 (Die selbständige Teil der Magdeburgischen Chronik von Georg Butze), S.153f (Die Historia des Möllenvogtes Sebastian Langhans)
– Urkundenbuch der Stadt Magdeburg, Band 3 bis 1455-1513, Aalen 1978, (UB),
– Max Dittmar, Bürgermeister und Kämmerer der Stadt Magdeburg von 1213-1630; in: Geschichtsblätter für Stadt und Land Magdeburg, 24. Jahrgang 1889, S. 135 ff.
– G. Hertel, Verzeichnis der Magdeburger Schultheißen, Schöffen und Ratsmänner; in: Geschichtsblätter für Stadt und Land Magdeburg, 16. Jahrgang 1881, S.253 ff.
Stadtgeschichtsschreibung und zur Reformation:
– Hertel/Hülße, Friedrich Wilhelm Hoffmanns Geschichte der Stadt Magdeburg – neu bearbeitet, Magdeburg 1885, (Hofmann), S. 354f, 360f
– F.A. Wolter, Geschichte der Stadt Magdeburg, Magdeburg 1901, (Wolter)
– Helmut Asmus, 1200 Jahre Magdeburg, Magdeburg 2000,
– Hans Lilje, Martin Luther in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek1979, S. 67
– Kurt Aland, Martin Luther, in: Exempla historica – Epochen der Weltgeschichte in Biobraphien, Bd. 25, Humanismus, Reinassance und Reformation – Heilige, Ketzer, Reformatoren, Frankfurt/Main 1983, S. 153f;
– Ballerstadt/Koester/Poenicke(Hrsg.), Magdeburg und die Reformation, Bd. 1, Halle/Saale 2017,
— Kai Bößneck, ein angenehme gute wercke“ – die Bemühungen Albrechts von Brandenburg um eine Reform der Kirche, S.217ff
– Köster/Poenicke/Volkmar(Hrsg.), Magdeburg und die Reformation, Bd. 2, Halle/Saale 2017,
— Carsten Nahrendorf, Magdeburgs Reformation auf der Bühne des Gymnasiums – das Jubiläumsdrama „Eusebia Magdeburgensis“ von Johannes Blochius, S. 231
— Armin Brinzing, Martin Agricola und das Magdeburger Musikleben …, S. 105
– Karin Bornkamp/ Gerhard Ebeling, Martin Luther – Ausgewählte Werke, Frankfurt/Main 1983 (AW)
— Bd.1 Aufbruch zur Reformation, Disputation zur Erläuterung der Kraft des Ablasses, S.26ff, Von der Freiheit des Christenmenschen, S.238ff;
— Bd. 2 Erneuerung von Frömmigkeit und Theologie, Ein kleiner Unterricht, was man in den Evangelien suchen und erwarten soll, S. 197ff
— Bd, 3 Auseinandersetzung mit der Römischen Kirche, Von dem Papstum zu Rom, wider den hochberühmten Romanisten zu Leipzig, S. 13)
– Walter Peter Fuchs, Das Zeitalter der Reformation, dtv – Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte Bd. 8, S. 120
– Ruggiero Romano/ Alberto Tenenti, Grundlegung der modernen Welt – Spätmittelalter, Renaissance, Reformation, Weltbild Weltgeschichte Bd. 12, Augsburg 1998, S.183
– Hans Blumenberg „Genesis der kopernikanischen Welt“, Teil 3.II: Folgen einer wohlmeinenden Irreführung, Frankfurt/Main 1981
– Kurt Flasch, Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung – Mittelalter, Stuttgart 1988, S. 458.
– Charles Fourier, Theorie der vier Bewegungen und der allgemeinen Bestimmungen, Hrsg. Theodor W. Adorno, Einleitung Elisabeth Lenk, Frankfurt/Main 1966
Genealogie:
ZMA. SH 3:Sippenverband Ziering-Moritz-Alemann, Heft Nr. 3, Berlin, Januar 1938 (im Internet unter www.z-m-a.de), S.184
Eberhard v.Alemann, Geschichte des Geschlechts von Alemann, Magdeburg 1909, S.11, 89