Ecclesiastica Historia

Magdeburger Centurien – das erste wissenschaftliche Großprojekt der Neuzeit

Titelsblatt und die ersten Seiten des ersten Bandes der Centurien

Es gibt ein historisches Ereignis der Reformationszeit, das nicht nur in Magdeburg weitgehend unbekannt, das für die Stadt und die deutsche Geschichte aber sehr wichtig ist.  Es ist ein Projekt, das von Matthias Flacius initiiert und von Johann Wigand geleitet wurde. Es hatte sich zum Ziel gesetzt, die „wahren Geschichte“ der christlichen Kirche vom Anfang bis zur damaligen Zeit vollständig  zu beschreiben. Diese Arbeit wurde mit Erfolg  auf neue Art durchgeführt: es rekonstruierte die Vergangenheit anhand von Quellen und suchte nach neuen Sichtweisen durch Kritik der bisherigen Quellennutzung. Durch die Zusammenarbeit der in Magdeburg versammelten Wissenschaftler und Theologen – gefördert von Vertretern des Rates – entstanden in „dem ersten wissenschaftlichen Großprojekt der Neuzeit“ (so im Katalog zur Ausstellung des Jahres 2005 in der Universitätsbibliothek Magdeburg)  die „Magdeburger Centurien“ wo es heißt:

Dieses erste wissenschaftliche Großprojekt der Neuzeit war eine überragende organisatorische und inhaltliche Leistung, deren Durchführung allerdings nicht mehr vom spiritus rector Matthias Flacius unternommen wurde, sondern von einem zunächst in Magdeburg arbeitenden Gremium unter Führung des protestantischen Gelehrten und Pfarrers Johannes Wigand (1523-1587).

Die Centurien richteten sich gegen die Ansprüche der katholischen Kirche und wurden – wegen der in ihnen enthaltenen wohl begründeten scharfen Kritik – notwendiger Weise zum Auslöser heftiger Gegenkritik, die aber ebenfalls zum Instrument des Quellenstudium und der Kritik der Sekundärquellen greifen musste. Das wurde zum Impuls für eine neuartige (Kirchen-)Geschichtsschreibung.

Jedem nachchristlichen Jahrhundert widmeten die Centuriatoren einen Band – daher der populäre Name „Magdeburger Centurien“ (von . Jeder dieser Bände hatte einen gleichmäßigen systematischen Aufbau, der sich durch die thematische Gliederung grundsätzlich von der bisherigen chronologischen Auflistung unterscheidet.

Dankenswerterweise fand dieses Werk bei den Magdeburger 1200-Jahrfeiern seinen Platz: Am 10./11.11.2005 versammelte sich im neu renovierten Sitzungssaal des Rathauses am Alten Markt unter der Leitung des Stadtplanungsamtes Magdeburg eine teilweise hochkarätige Runde zur Tagung „Die Magdeburger Centurien“, um sich zwei Tage lang mit diesem Werk, seiner Bedeutung und seinem Umfeld zu befassen. Von der „Kampfzeit“ der Reformation und der Rolle Magdeburgs in dieser Epoche kennt man meist nur das Stichwort: „Unseres Herrgotts Kanzlei“ – eigentlich ein Wittenberger Schmähwort gegen die in Magdeburg versammelten zänkischen Theologen. Seit Wilhelm Raabes Roman mit diesem Titel wird es aber von den Magdeburgern selbst wie ein Ehrentitel gebraucht.

Die Hintergründe des „Theologengezänks“ und der Windungen und Wendungen der Ratspolitik in der Zeit der Reformation sind alles andere als einfach zu erforschen, darzustellen und zu begreifen. Ein Versuch, die damalige Zeit aus der Sicht der heutigen zu erfassen und zu begreifen, konnte auch von der Tagung am 10/11.11.05 nicht erwartet werden. Sie konnte aber immerhin ein Gespür fördern dafür, dass es hier um mehr ging als um Geschrei und Intrigen, dass damals vielmehr ungewöhnliche Gedanken gedacht und neue Wege beschritten wurden, die bis heute unser Lebens- und Zeitgefühl prägen.

Dr. Eckart W. Peters (Leiter des Stadtplanungsamtes Magdeburg) und Dr. Günther Korbel haben mit dem Tagungsband und der folgenden Neufassung der Centurien in zwei Bänden ein Werk herausgeben, dem zu wünschen ist, dass er das Interesse am diesem Thema und die Bekanntheit der Centurien insgesamt fördert. Neben der Tagungsleiterin Dr. Martina Hartmann (Uni. Heidelberg) bereicherten insbesondere Kenner der großen Quellensammlungen  – Dr. Arno Mentzel-Reuters (Bibliotheksleiter der Monumenta Germaniae Historica, München) und Prof. Dr. Helwig Schmidt-Glintzer (Direktor der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel) die Tagung. Sie betonten die überragende Bedeutung der Centurien (oder Zenturien) für die Geschichtsforschung an der Schnittstelle von Mittelalter und Neuzeit. Die weiteren Referenten lieferten viel Material zum Bild der Zeit, in der das Projekt durchgeführt wurde. Insbesondere wurde die Aufmerksamkeit auf Johann Wigand und die Stadt Wismar gelenkt, wo dieser zuletzt wirkte und die meisten Bände der Centurien geschrieben hat.

In letzter Zeit hat insbesondere das Lutherjahr 2017 mit der zweibändigen Sammlung Magdeburg und die Reformation, ein Gemeinschaftsprojekt der Stadtbibliothek und des Stadtarchivs, im Band 1 mit zwei weiteren Ausarbeitungen von Martina Hartmann und Harald Bollbuck einen kurzen Einblick und sehr hilfreiche Orientierung in diesem Thema gegeben und man darf hoffen, dass es auch in Zukunft immer mehr Aufmerksamkeit gewinnt.

Das Exlibris in dem ersten Band der Centurien, den die Centuriatoren der Stadt Magdeburg mit dieser Widmung übergaben (gehört zu den im 2. Weltkrieg verlorenen Archivalien der Stadtbibliothek)

Allgemeine Information

Die Centurien-Originale befinden sich seit kurzem voll digitalisiert unter der Adresse:

http://www.mgh-bibliothek.de/digilib/centuriae.htm

Dieses Projekt wurde auf der Tagung vom 10/11.11.2005 von Dr. Arno Mentzel-Reuters vorgestellt.

Überblicksinformation zur Sekundärliteratur und zu Links gibt es unter:

http://de.wikipedia.org/wiki/Magdeburger_Centurien

Hier findet man unter den Literaturangaben zu Hartmann/Reuters auch den der Ausstellung, die in München und Magdeburg gezeigt wurden:

http://www.mgh-bibliothek.de/etc/dokumente/a130951.pdf

Hingewiesen werden soll insbesondere auch auf das Buch der Tagungsleiterin Frau Dr. Martina Hartmann, das allerdings eher auf Flacius Illyricus und seine Rolle als Erforscher des Mittelalters ausgerichtet ist.

Weiter die Aufsätze in

Maren Ballerstadt, Gabriele Köster, Cornelia Poenicke (Hrsg.), Magdeburg und die Reformation, Teil 1: Eine Stadt folgt Luther, Halle (Saale) 2016

Martina Hartmann, Matthias Flacius Illyricus erfoscht die mittelalterliche Geschichte . Seine fruchtbaren Magdeburger Jahre 1549-1557

Harald Bollbuck, Die Magdeburger Centurien: Arbeitsorganisation, Motivation, Konzept